Jugendbuch zum Thema Magersucht

Lebens-Briefe an die Schwester

Am Saimaa See in Finnland
Geschwisterliebe kann viel bewirken. © imago
Von Sylvia Schwab · 25.02.2015
In "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" schreibt die kleine der großen Schwester Briefe in die Klinik, wo ihre Magersucht behandelt wird. Ein mutiges Buch der jungen Autorin Lilly Linder, deren Texte autobiografisch sind.
Zwei Schwestern, die fast schon symbiotisch miteinander verbunden sind, kämpfen auf unterschiedlichen Ebenen gegen den Tod: April ist sechzehn Jahre alt und magersüchtig. Phoebe ist neun und wortsüchtig. Die kleine schreibt der großen Schwester ein halbes Jahr lang Briefe in eine Klinik, wo April ums Überleben kämpft.
Und obwohl Phoebe keine direkte Antwort bekommt, schreibt sie weiter, unermüdlich, sehnsüchtig, nie enttäuscht. Sie erzählt von ihrem Alltag, von der Schule und ihren Freundinnen, von den verständnislosen Eltern und vor allem von früher. Schnell wird deutlich, dass Aprils Magersucht mit der Lieblosigkeit der unsensiblen Eltern zusammenhängt. April, intelligent und fantasievoll, passte einfach nicht in deren Lebens- und Denkschema, sie wurde übersehen.
Dass hier anfangs nur die kleine Schwester erzählt ist eine risikoreiche Konstruktion. Wie will ein Kind, das die tödliche Krankheit nicht versteht, davon wissen? Doch die naive Phoebe macht mangelnde Lebenserfahrung mit großer sprachlicher Begabung wett, auch wenn das Ergebnis oft altklug wirkt. Manchmal lyrisch, meist aber ziseliert schreibt sie der großen Schwester und klingt dabei nicht selten wie ein Ratgeber in Herzensdingen: "Erwachsene! Die wollen immer den Schmerz der Gezeiten auf ihren Schultern spüren, damit sie etwas zum Herumschleppen haben und guten Gewissens depressiv werden können."
Brief voll Einsamkeit und Schmerz
Der zweite Teil des Romans besteht dann aus Aprils Briefen. Sie beantwortet Phoebes Fragen, berichtet von ihrem Klinikalltag und erzählt von ihrer Einsamkeit, ihrem Schmerz, ihrem langsamen Verschwinden aus ihrem Körper und ihrer Familie. Obwohl auch ihre Briefe beladen sind mit bedeutungsvollen Bildern, eigenwilligen Neuschöpfungen und "wort-wasserfallartigen" Reflexionen spürt man den Ballast dieser Krankheit. April hat die Magersucht bis ins Innerste ihrer Seele hinein erlitten. Wer das nicht selbst erlebt hat wie Lilly Lindner, kann so nicht schreiben. So emotional und tief traurig.

"Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" ist ein mutiges Buch, denn es zwingt seine Leserinnen und Leser an Grenzen, die oft auch überfordern! Auch indem vieles nicht zusammenpasst, wie Phoebes kindlicher Blick, ihre geziert wirkende Sprachexperimente und ihr Alter. Aus Poebes und Aprils Gedanken über das Schreiben hört man die Autorin selbst heraus, Ihre Geschichte.
Lilly Lindner hat ihre Traumata zwar nicht überwunden, aber sie hat sie in den Griff bekommen. Und so erzählt dieser Roman nicht nur vom Sterben, sondern auch davon, wie man über- oder besser gesagt weiterleben kann. Denn Phoebe, die zukünftige Schriftstellerin, schafft es, nach dem Verlust ihrer Schwester weiterzuleben, sie geht nicht unter – allein mit Hilfe des Schreibens. Und das ist, auch Lilly Lindners Ausweg gewesen.

Lilly Lindner: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
Fischer Verlag, Frankfurt 2015
400 Seiten, 9,99 Euro, ab14 Jahren
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