Jürgen Habermas wird 90

Verehrung für einen besonderen Gelehrten

08:14 Minuten
Jürgen Habermas erhielt 2001 die Ehrendoktorwürde der Harvard Universität. Entsprechend fröhlich blickt er auf dem Bild aus seinem schwar-roten Talar.
Der Gelehrte Jürgen Habermas im Talar der Harvard Universität. © Darren McCollester / Getty Images)
Rainer Forst im Gespräch mit Ute Welty |
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Der Philosoph Rainer Forst gratuliert seinem ehemaligen Lehrer Jürgen Habermas zum 90. Geburtstag. Und würdigt ihn als Ausnahmeerscheinung unter den Gelehrten. Das Interesse an ihm liege auch in den pointierten politischen Stellungnahmen begründet.
Ute Welty: "Ein streitbarer Intellektueller", "ein Kämpfer für Europa", "ein genialer Typ" – das sind nur drei der Titel unzähliger Geburtstagsporträts, denn Philosoph Jürgen Habermas wird heute 90 Jahre alt.
Dreimal hat Habermas in Frankfurt am Main Station gemacht, als Assistent von Adorno oder als Nachfolger von Horkheimer unter anderem. Insgesamt, sagt Habermas, habe er in Frankfurt die aufregendsten Zeiten seines Erwachsenenlebens erfahren.
In Frankfurt lehrt auch Rainer Forst als Professor für politische Theorie und Philosophie, und der hat bei Habermas in den frühen 90ern die AG Rechtstheorie besucht. Was ist denn Ihre erste Erinnerung an Habermas?
Forst: Also die erste Erinnerung ist: Ich fing an, Mitte der 80er in Frankfurt zu studieren. Das war die Zeit, als Habermas nach der Starnberger Zeit wieder nach Frankfurt zurückgekommen war, und das war eine aufregende Zeit. Da gab es Einiges an philosophischen Diskussionen. Da kam das wichtige Buch über den Diskurs der Moderne heraus, wo er Foucault kritisierte, Derrida kritisierte, und wir jungen Studierenden, wir dachten, na ja, muss das denn alles sein, so radikal die Entgegensetzung zwischen der deutschen und der französischen Philosophie.
Aber wir verstanden natürlich auch, aus welchen Antrieben heraus das geschah. In die Zeit fiel aber auch der Historikerstreit. Also das waren wirklich aufregende Zeiten in jeder Hinsicht, philosophisch und politisch.

Habermas spitzte den Historikerstreit zu

Welty: Beim sogenannten Historikerstreit stand ja die These im Raum, Deutschland müsse die NS-Vergangenheit und den Holocaust abschütteln, um ein eigenes Bewusstsein zu schaffen. Das hat Habermas vehement kritisiert, mit Recht oder auch mit Erfolg?
Forst: Ich denke mit Recht und mit Erfolg, wobei natürlich die Formulierung, die Sie jetzt verwendet haben, die würden viele der Historiker, die an der Debatte damals beteiligt waren, als etwas einseitig zurückweisen, aber Habermas spitzte das so zu.
In der Tat fand er – da muss man sich historisch ein bisschen in die Zeit der frühen Regierung von Helmut Kohl zurückdenken –, also er glaubte, dass dort das, was er "Normalisierung der Vergangenheit" nannte, dass das dort stattfand, dass man also die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere des Holocausts glaubte, historisch relativieren zu können, und mit dieser Reinterpretation der nationalsozialistischen Vergangenheit hatte er große Probleme und hat Alarm geschlagen, und ja, da wurde eine größere Debatte draus – ich glaube, eine ganz heilsame Debatte zu der Zeit.
Welty: Vom Jahr 1986 noch mal einen Sprung zurück ins Jahr 1968 oder in die Jahre rund um 1968: Die Studentenbewegung, die haben weder Sie noch ich damals richtig mitbekommen. Wie zentral war die Rolle von Habermas in dieser Zeit? Wie ordnen Sie das heute ein?
Forst: Das war eine äußerst intensive politische Zeit, nicht nur für ihn, aber in Frankfurt, das war ja ein Zentrum der politischen, aber auch der theoretischen Debatte, weil man hoffte, dass die jüngeren wie auch die älteren Vertreter der Kritischen Theorie, also Adorno insbesondere, aber eben der jüngere Habermas, dass sie praktisch die Theorie zur politischen Tat liefern würden. Das hat aber nicht so ganz funktioniert.
Sowohl Adorno war skeptisch gegenüber gewissen Ansprüchen der Studierenden, eine Avantgarde einer umfassenderen politischen Umwälzung sein zu können, und Habermas, der selbstverständlich mit den Studierenden sympathisierte – ich sage selbstverständlich, weil er schon in den Jahren zuvor die Demokratisierung des Hochschulwesens, aber natürlich auch die Demokratisierung anderer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, wir reden über die späten 50er, dann über die 60er, da war die Gesellschaft der Bundesrepublik schon noch eine autoritärere Gesellschaft, als wir uns das heute vorstellen –, also er sympathisierte, aber bestimmte Aktionsformen, bestimmte Aktivismen, aber auch bestimmte Ansprüche, für wen man da sprechen könnte, die hat Habermas kritisiert.
Und wie das so ist in solchen Entwürfen, derjenige, von dem du eigentlich Zustimmung erwartest, wenn der dich dann kritisiert, das kann dann manchmal etwas intensiv und etwas rabiat werden.

Diskussionen über Kant und Bioethik

Welty: Wo kritisieren Sie Habermas?
Forst: Auf der philosophischen Ebene haben wir gelegentlich Diskussionen darüber, wie stark man die Kantsche Philosophie heute noch machen kann. Ich diskutiere auch mit ihm über Fragen, wie man bioethische Zusammenhänge kritisieren soll. Auch da hat er ja ein größeres Werk geschaffen, und die heutige Diskussion, die zu seinem neuen Buch führt, über das Verhältnis von Religion und Philosophie, gehört in diesen Zusammenhang.
Welty: Satte 1.700 Seiten, habe ich gelesen.
Forst: Ja! Obwohl er die Gabe hat, besonders in seinen politischen Beiträgen, sehr klare und griffige Formulierungen zu finden, sind doch die philosophischen Projekte, auch dieses neue, des demnächst erscheinenden Buches, die sind so umfassend, dass also hier so eine Vorgeschichte des nachmetaphysischen Denkens, wie er es nennt, in der Auseinandersetzung mit der Religion, mit der theologischen Tradition vorgenommen wird – und das dauert manchmal seine Zeit.
Welty: Habermas ist immer dafür eingetreten, dass nicht die Mehrheit, sondern das bessere Argument zählt. Inwieweit könnte dieser Ansatz dabei helfen, die derzeitige Demokratiekrise zu bewältigen?
Forst: Die Demokratiekrise muss natürlich analysiert werden, worin die genau besteht. Ist es eine Repräsentationskrise oder ist es vielleicht eher eine Krise, die daher rührt, dass wir in einer Zeit leben, in der die anzugehenden politischen Herausforderungen alle globaler oder transnationaler Natur sind, also Beispiel Finanzkrise, aber auch die ökologische Krise, wir aber dafür nicht nur keine Institutionen haben für demokratische Politik jenseits des Nationalstaats, sondern uns gelegentlich auch die Vorstellungskraft für so eine Form der Politik fehlt.
Dann liegen eher technokratische, also nichtdemokratische Formen der Politik nahe. Ich glaube, dass er zu Recht kritisiert und einfordert, dass wir über transnationale Formen der Demokratie nicht nur nachdenken müssen, sondern dass sie geschaffen werden müssen.

"Das Interesse an seiner Person ist singulär"

Welty: Der heutige Geburtstag ist natürlich Familie und Freunden vorbehalten, aber morgen erwarten Sie Jürgen Habermas zu einem öffentlichen Vortrag an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sind Sie ein bisschen aufgeregt? Ich an Ihrer Stelle wäre es.
Forst: Ja, das ist aufregend, nicht nur weil es immer spannend ist, was er zu sagen hat, sondern weil das Interesse an seiner Person so groß ist, das ist schon singulär. Also so etwas erlebt man in anderen westlichen Ländern eigentlich nicht. Da ist schon etwas im Spiel in Deutschland, was mit einer Verehrung für einen besonderen Gelehrten, einen besonderen Wissenschaftler, der aber auch, wie sonst kaum jemand oder gar niemand, politisch aktiv und ein politischer Kopf ist. Also beides zusammen, dieses große theoretische Werk, aber auch diese pointierten politischen Stellungnahmen, das macht eine Singularität aus, die ein großes öffentliches Interesse begründet. Sie haben schon Recht, da kommt was auf uns zu!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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