Elisa Klapheck, Ruth Calderon: Machloket. Streitschriften
Säkulares Judentum aus religiöser Quelle, 80 S.
Verlag Hentrich&Hentrich ISBN 978-3-95565-084-1, € 9,90.
In guter talmudischer Streitkultur
In der Gelehrsamkeit des Judentums hat der Meinungsstreit eine große Tradition. An diese Jahrtausende alte Kultur will die neue jüdische Halbjahreszeitschrift "Machloket" anknüpfen.
Dunkelgrün und klein ist das kleine Bändchen, es kommt harmlos daher, aber der Schein trügt. Schon der Titel des ersten Heftes ruft ein Stirnrunzeln hervor: "Säkulares Judentum aus religiösen Quellen." Und so widmet sich die Frankfurter Rabbinerin und Herausgeberin der Schriftenreihe Elisa Klapheck zunächst einmal der Klärung der Begriffe. Schon an seiner Wurzel nämlich verlange das Judentum die Auseinandersetzung mit der säkularen, der weltlichen Welt:
"Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, dass das Gegenteil von 'säkular' nicht 'religiös' ist. Das ist ein Fehler, so zu denken. Die meisten Juden, die religiös sind, sind sehr wohl für den demokratischen Rechtsstaat, das heißt, sie sind säkular – auch. Das Gegenteil von 'säkular' ist 'theokratisch'. Theokratie heißt: Gott regiert. Wer religiös ist und zugleich theokratisch, will, dass Gottes Wille verwirklicht wird, es geht nur so, wie es in der Tora geschrieben steht und nicht anders."
Schon der Talmud aber, das weist Klapheck überzeugend nach, bricht das Absolute der Tora auf. Die Religion sei nur von Gott inspiriert, aber von den Menschen gemacht.
"Die Herausforderungen der Gegenwart behandeln"
"Wenn man also zum Beispiel den Talmud liest, wo viele Rabbiner diskutieren, da gibt es Abstimmungen, da verändert man die Gesetze, da werden neue Schwerpunkte gelegt, da sieht man: Der Talmud ist ein säkulares Werk."
Ganz in der talmudischen Tradition eines Anpassens der alten religiösen Quellen an die moderne Welt sehen Verlegerin Nora Pester und Elisa Klapheck ihr neues Zeitschriftenprojekt.
"Es geht mir nicht darum, dass die jüdische Tradition jetzt einfach wiederholt wird, das, was man in Schulbüchern und akademischen Büchern schon nachlesen kann. Uns geht es darum, dass die Herausforderungen der Gegenwart behandelt werden. Also zum Beispiel der demokratische Rechtsstaat oder die Menschenrechte: Sind die tatsächlich aus der jüdischen Tradition her begründet? Und wenn nicht, dann wäre ich daran interessiert: Wie kann man neue moderne Theologie weiterentwickeln, die jüdische Tradition weiterbringen?"
Jüdische und judentumsnahe Autorinnen und Autoren sollen in dem Forum diskutieren; die Liste ist lang: Es geht um das Verhältnis von Politik und Religion eine jüdische Wirtschafts- und Sozialethik als Antwort auf die Globalisierung. Auch eine jüdische Kritik am Christentum und Islam steht auf der Agenda. Klapheck fokussiert auf Deutschland und Europa und bezieht doch auch die Frage nach dem Judentum in Israel mit ein:
"In Israel gibt es wirklich die Gefahr, dass ein theokratisches religiöses Denken die Religion bestimmt. Mir ist es aber wichtig, auch die Beziehung zu Israel zu haben, also eine konstruktive, positive Beziehung. Man hat heute in Israel zwei unversöhnliche Lager einander gegenüber stehen – einmal die theokratisch religiös Denkenden, und auf der anderen Seite dann die Säkularen, die das Religiöse ablehen."
Ein neuer Umgang mit dem Judentum
Die Israelin und Religionswissenschaftlerin Shulamit Rom erforscht für ihre Dissertation an der Universität Heidelberg, wie sich in Israel zwischen diesen Polen seit 20, 30 Jahren dennoch ein alternatives, säkular-religiöses Milieu entwickelt:
"Es bilden sich so Lernzentren, in denen man sich dem Lernen der alten Texte des Judentums widmet, aber mit einem pluralistischen, gleichberechtigten Ansatz. Dass jeder eingeladen ist, mit seiner Weltanschauung, seiner eigenen Welterfahrung auch, sich mit den Texten zu begeben und seine eigene Interpretation anzubieten, und alles gilt als legitim."
Im Vakuum zwischen Ultraorthodoxie und reiner Weltlichkeit entstehe ein neuer Umgang mit dem Judentum, der versucht, die Religion in der Moderne alltagstauglich zu machen.
"Sie behaupten gegenüber der Orthodoxie: Wir sind die Vitalität, wir sind die flexibleren, wir leben die pluralistische Tradition des Judentums weiter und ihr verschließt euch hinter solchen Mauern. Das ist nicht das wahre Judentum, ihr seid nicht mehr die Repräsentanten des wahren Judentums."
Der zweite Teil des ersten Heftes von Machloket widmet sich einer der Hauptprotagonistinnen dieser Entwicklung in Israel, Ruth Calderon. Sie hat in Tel Aviv und Jerusalem jeweils säkulare Jeschiwot, jüdische Lehrhäuser, gegründet.
"Die Menschen, die ganze übrige Welt vergessen"
Als Parlamentsabgeordnete der Partei Jesch Atid – 'Es gibt eine Zukunft' – zog Calderon 2012 in die Knesset ein. Sie kämpft gegen die in Israel weit verbreitete Ansicht, dass nur dem orthodoxen Judentum die Deutungshoheit über Tora und Talmud zukommt. Elisa Klapheck:
"Sie hat also in einer berühmt gewordenen Rede vor der Knesset eine Geschichte zitiert aus einer Reihe von sieben Geschichten aus dem Talmud, wo Rabbiner für viele Jahre ihre Familie verlassen, um in Babylonien an einer bestimmten Talmud-Akademie, einer Jeschiwa, Talmud zu studieren. Und alle diese Rabbiner verlieren den Anschluss an die wirkliche Welt, vor allem auch an ihre Familien. Und Ruth Calderon sieht darin die Talmudische Selbstkritik. Also die Rabbiner, die es zu toll treiben, die Menschen, die zu religiös sind, die zu ultra werden und die ganze übrige Welt vergessen und denken, sie täten da einen besonderen Gottesdienst, tun eigentlich das Falsche."
Richtig sei, Rabbinerin Klapheck zwinkert, das Judentum neu zu verhandeln – zum Beispiel in "Machloket".