Jüdisches Leben in Südindien

Religiöse Vielfalt rund um die älteste Synagoge Indiens

07:22 Minuten
Passanten gehen in Kochi in Südindien vor der Paradesi-Synagoge eine Straße entlang.
Die Paradesi-Synagoge in Kochi im Bundesstaat Kerala wurde im 16. Jahrhundert erbaut. Im jüdischen Viertel leben kaum noch Juden. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Sebastian Kahnert
Von Karin Wenger · 19.02.2021
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In Kochi im Süden Indiens lebten vor Jahrzehnten noch 2000 Juden. Inzwischen hat sich die Zahl stark reduziert. Doch es ist noch einiges zu erleben im jüdischen Viertel der Stadt mit der alten Synagoge. Etwa die Toleranz zwischen Juden und Muslimen.
Sarah Cohen stimmt keine Lieder mehr an, auch wenn das zerfledderte Gesangbuch offen in ihrem Schoß liegt. Erst ein Handyfilm, aufgenommen bei einem längst vergangenen Fest, entlockt ihr ein paar Gesangsbrocken. Singen sei schließlich immer Teil ihres Lebens gewesen und jenes der ganzen jüdischen Gemeinde in Kochi, sagt sie.
"Wir Juden in Kochi haben die Lieder geliebt, mehr als die Thora-Studien. Und wenn ich gesungen habe, dann haben mich alle bewundert."
Wenn Sarah Cohen spricht, dann tut sie das immer in der Vergangenheitsform, als ob die Gegenwart nicht mehr zählte und die Zukunft nichts mehr für ihre Gemeinschaft bereithalten würde. Und wahrscheinlich hat sie recht. Sechs der sieben verbleibenden Juden in der historischen Altstadt sind über 70 Jahre alt. Die jüngste, um die 40 Jahre, ist unverheiratet und kinderlos.
Dabei lebten vor 70 Jahren noch beinahe 2000 Juden in Kochi. Sie waren vor Jahrhunderten als Händler oder Verfolgte aus Europa und dem Nahen Osten an die Malabarküste gekommen. Mit der Staatsgründung Israels 1948 setzte eine Gegenbewegung ein. Die meisten Juden aus Kerala wanderten nach Israel ab. Auch Sarah Cohen erinnert sich noch an ihren ersten und einzigen Besuch im neu gegründeten Staat.
"Israel hat mich nicht wirklich berührt. Die Leute waren neugierig und haben mich ausgefragt, das mochte ich nicht. In Kochi, unserer kleinen Judenstadt, ist es schöner."

Jüdisches Viertel zieht Touristen an

Seit Jahrzehnten wohnt Sarah Cohen im gleichen Haus, nur wenige Schritte von der Synagoge entfernt. Ihr Mann war Anwalt und arbeitete im Steueramt. Das Ansehen der Familie war groß. Cohen führte ihren kleinen Hausladen, "Sarahs Embroidery Shop", in dem sie selbst gehäkelte Kippot, bestickte Tischtücher und Ansichtskarten verkaufte.
Noch heute pilgern Touristen aus Israel und der ganzen Welt zu Sarahs Laden, der in jedem Reiseführer erwähnt ist. Meist schauen sie auch gleich noch in Sarahs Wohnzimmer. Die Gäste aus Israel sprechen sie auf Hebräisch an.
In solchen Momenten wendet sich Sarah verwirrt an ihren Haushälter Taha Ibrahim. Denn sie spricht nur Englisch und die Lokalsprache Malayalam, genau wie Taha. Taha macht alles, was Sarah nicht mehr kann. Er häkelt die Kippot, verkauft die Tischtücher und hilft ihr im Haushalt. Dass Taha Muslim und Sarah Jüdin ist, spielt weder für ihn noch für Sarah eine Rolle.
"Muslime und Juden leben seit Jahrhunderten hier friedlich zusammen. Natürlich sind unsere Religionen unterschiedlich, aber wir respektierten uns. Als Sarahs Mann noch lebte, konnten wir stundenlang darüber diskutieren, wie man im Judentum oder im Islam eine Kuh schlachtet. Der Kompromiss war: Hier im Haus der Cohens essen wir nur Gemüse und Fisch, kein Fleisch."

Religiöse Toleranz im Süden

Die Geschichte Keralas ist weitgehend frei von religiösem Hass. Der Journalist P. Rajan meint, religiöse Toleranz gehöre bis heute zur DNA Indiens, gerade weil es mehrheitlich hinduistisch geprägt sei.
"Die Vielfalt ist hier kein Problem, sondern erwünscht. Im Hinduismus haben wir hunderte von Göttern und die existieren friedlich nebeneinander. Im Christentum oder Islam geht es um die Vorherrschaft des einzigen richtigen Gottes."
Blick in das Innere der Paradesi Synagoge in Kochi, der ältestesten aktiven Synagoge in Indien  and also the Commonwealth of Nations.
Im 18. Jahrhundert wurden die Kacheln für den Boden der Synagoge in Kochi aus China importiert. Die Kronleuchter sind aus Belgien, der größte aus Muranoglas.© picture alliance / CPA Media Co. Ltd / Rainer Krack
Religiöse Intoleranz gibt es jedoch auch in Indien, aber man finde sie vor allem im Norden, nicht im Süden, wirft Rajans muslimischer Freund Haneef ein, das habe mit der Geschichte zu tun.
"Nach Kerala kamen die Muslime bereits zur Zeit des Propheten – als Händler und Geschäftsleute. In den Norden fielen sie später ein, und zwar als Eroberer. Das hat hier niemand vergessen."

Synagoge bloßes Erinnerungsstück?

Im kleinen jüdischen Viertel von Kochi locken heute Muslime aus Kaschmir die Touristen in ihre Läden. Und um die Synagoge kümmert sich nicht ein Jude, sondern ein Christ. KJ Joy hat die Aufgabe von seinem Vater und Großvater geerbt und führt voller Stolz durch die Synagoge. Es ist die älteste Indiens.
"1568 wurde sie erbaut. 200 Jahre später wurden die Kacheln für den Boden aus China importiert, die Kronleuchter sind aus Belgien, der größte aus Muranoglas. Gottesdienste werden hier kaum noch abgehalten, denn meist fehlen die zehn jüdischen Männer, die dafür nötig wären."
In 15 oder 20 Jahren würden wohl nur noch Touristen die Synagoge besuchen, glaubt Joy etwas wehmütig.
"Die letzten Juden werden gestorben oder nach Israel ausgewandert sein. Die Synagoge wird ein bloßes Monument, ein Erinnerungsstück sein."
So sei das eben, sagt Sarah Cohen, die jetzt am späten Nachmittag auf ihrem Bett sitzt.
"Ich bin schwach geworden", sagt sie und streckt Taha die Hand entgegen. Er hilft ihr, sich hinzulegen. Im Hause Cohen ergänzen sich Islam und Judentum wortlos.
Sarah Cohen ist inzwischen verstorben.
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