Jüdisches Kammerorchester Hamburg

Musikalische Stolpersteine gegen das Vergessen

08:36 Minuten
 Violinen-, Cello- und Kontrabass-Spieler des Jüdischen Kammerorchesters in Hamburg geben ein Konzert
Im Frühjahr 2020 eröffnet das Jüdische Kammerorchester in Hamburg unter dem Titel "Musikalische Stolpersteine" seine zweite Konzertreihe. © Jüdisches Kammerorchester Hamburg
Von Ursula Storost · 29.10.2019
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Angelehnt an das gleichnamige Orchester von 1934 wird in Hamburg das Jüdische Kammerorchester neu gegründet. Damals unter den Vorzeichen der Ausgrenzung, heute als Zeichen der Verständigung. Schwerpunkt: von den Nazis verfolgte jüdische Komponisten.
Die Schwestern Natalia Alenitsyna und Anna Alenitsyna-Herber üben für ihr Auftaktkonzert zur neuen Saison. Zum zweiten Mal präsentiert das Jüdische Kammerorchester Hamburg im kommenden Jahr seine Reihe "Musikalische Stolpersteine". Neben bekannter Kammermusik aus verschiedenen Jahrhunderten werden auch selten aufgeführte Werke von jüdischen Komponisten gespielt. Komponisten, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.
"Wir haben ein Stück gefunden von einem Komponisten Robert Dauber. Er ist ganz jung gewesen, gestorben an Typhus mit nicht einmal 23 Jahren im KZ Dachau. Vorher war er in Theresienstadt, wo er das Stück komponiert hat, was wir spielen wollen."

Von Robert Dauber, einem viel versprechenden Cellisten, Pianisten und Komponisten ist nur dieses eine Stück, die Serenade, erhalten, sagt die Pianistin Anna Alenitsyna-Herber. Und spielt eine mitreißend fröhliche Komposition.
"Ja, jedes Mal sind wir selbst erstaunt, wenn wir das spielen. Der Robert Dauber ist 1922 geboren und 1942 hat er diese Musik in Theresienstadt im KZ komponiert. Und sie ist so voller Freude und Optimismus. Unglaublich."

Das Jüdische Kammerorchester als Notgemeinschaft

Der Cellist Pjotr Meshvinski ist Chef und Initiator des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg. Ein Orchester gleichen Namens gab es schon einmal 1934. Gegründet wurde es damals als eine Notgemeinschaft von hochkarätigen Berufsmusikern, die wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten aus den staatlichen Orchestern entlassen worden waren. Pjotr Meshvinski und seine Familie erfuhren vor einigen Jahren davon.
"Und diese Information ist fest stecken geblieben in unseren Herzen und Köpfen und wir haben dann lange überlegt, ob wir nicht anfangen, dieses Orchester wiederzubeleben. Und im letzten Jahr haben wir uns entschlossen, dass wir anfangen."
1991 kam Pjotr Meshvinski mit seiner heutigen Frau Natalia Alenitsyna und deren Schwester Anna aus St. Petersburg nach Hamburg. Alle drei hatten in Moskau und St. Petersburg Musik studiert. Die Familie überlegte, welchen Namen man einem Musikprogramm geben kann, in dem von den Nationalsozialisten verfolgte, großartige Komponisten gleichberechtigt mit klassischen Komponisten aufgeführt werden.

"Dort, wo wir in Hamburg wohnen, gibt es so viele Stolpersteine und jeden Tag gehen wir an verschiedenen Steinen vorbei und heulen, wenn wir lesen. Junge Leute, Kinder waren genommen. Und wo wir an diese Komponisten und diese Musik gedacht haben, kam uns ganz zufällig diese Idee, dass diese Komponisten und ihre Werke wie musikalische Stolpersteine sind."

"Man darf nicht vergessen."

Jeder kennt heute die überall in Deutschland verlegten Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Quadratische Pflastersteine aus Messing, die in die Bürgersteige eingelassen sind. Eingraviert die Namen, Geburts- und Todesdaten der Menschen, die in den angrenzenden Häusern gewohnt haben und die von den Nazis aus ihren Wohnungen verschleppt, inhaftiert und ermordet wurden. So entstand der Name Stolpersteinkonzerte, sagt Pjotr Meshvinski.
"Die Stolpersteine finde ich phänomenal, phänomenal. Man muss erinnern. Man darf es nicht vergessen."

Dass das neue Jüdische Kammerorchester die Lebenswege und Schicksale der Komponisten überhaupt rekonstruieren konnte, ist auch Peter Petersen zu verdanken. Der emeritierte Professor für Musikwissenschaften an der Universität Hamburg hat mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in jahrzehntelanger Arbeit ein Lexikon der verfolgten Musikerinnen und Musiker erarbeitet. Es ist heute für jeden im Internet zugänglich.

"Am 30. Januar 1933 wurden sofort die Juden soweit es ging aus Positionen aus Orchestern, an Theatern rausgeworfen und brauchten Arbeit. Die antisemitische Verfolgung begann von Anfang an, noch bevor die Gesetze dafür überhaupt formuliert waren."

Jüdische Institutionen konnten die Nazis kontrollieren

Das damalige jüdische Kammerorchester gab vier oder fünf Konzerte, die unter dem Dach der "Jüdischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft" präsentiert wurden. Dann verließen die Musiker Deutschland, um sich vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Das Unheimliche, ja, Diabolische, so Peter Petersen, war, dass zu dieser Zeit die Gründung spezieller jüdischer Kulturvereinigungen von den Nazis durchaus erwünscht war:
"Denn auf diese Weise, wenn Institutionen jüdischer Natur geschaffen wurden, hatten sie einen Überblick über die Masse der jüdischen Künstler, die sie ja letzten Endes vertreiben wollten und später sogar inhaftieren und deportieren und ermorden wollten."
Auch Emmanuel, der Sohn von Pjotr und seiner Frau Natalia, spielt inzwischen mit im Jüdischen Kammerorchester. Der 18-jährige Geiger studiert an der Hamburger Musikhochschule und tritt seit vier Jahren öffentlich auf. Die Musik verfolgter jüdischer Komponistinnen und Komponisten muss weiterleben, sagt er.
"Und ich glaube, dass man durch diese Geschichte, die man eben auch mit der Musik verbindet, dass man damit auch die junge Generation eher motivieren kann, zu so einem Konzert zu kommen und sich diese Musik und diese Geschichten anzuhören."

Viele verfolgte Musiker sind fast vergessen

Beim Auftaktkonzert der Schwestern Natalia und Anna gibt Emmanuel den Conférencier. Er kündigt die Stolperstein-Stücke an. Zum Beispiel das von Erwin Schulhoff:

"Erwin Schulhoff wurde 1894 in Prag geboren."
Erwin Schulhoff war ein bedeutender Komponist und Pianist. 1941 wurde er von den Nazis in das Bayerische Internierungslager Würzburg deportiert, wo er an Tuberkulose starb. Seine Werke sind heute fast vergessen. Und das ist ungerecht, sagt die Pianistin Anna Alenitsyna-Herber.
"Das Stück, was wir spielen, ist ein Stück aus seiner Jugendzeit und steht sehr unter Einfluss von Spätromantikern und klingt wunderbar."

"Wir möchten sagen, wir existieren"

In ihre zweite Saison der Stolpersteinkonzerte startet das Jüdische Kammerorchester mit viel Engagement, aber ohne finanzielles Polster. Der Förderverein Shalom e.V. soll mithelfen, langfristig weitere Musiker fest engagieren zu können. Gerade in Zeiten des wachsenden Antisemitismus, so die Geigerin Natalia Alenitsyna, sei es wichtig, ein Zeichen zu setzen: gegen Fremdenfeindlichkeit und jede Form der Diskriminierung.

"Wir machen uns laut mit unserer Musik und mit unserer Idee. Wir möchten sagen, wir existieren, Musik existiert, die jüdischen Komponisten leben weiter. Und egal, was da weiter passiert, da sind wir. Und wir sind nicht still."
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