Jüdischer Zukunftskongress

Deutschland mitgestalten

Dmitrij Belkin steht im Berliner Viertel Schöneberg zwischen Pflanzen.
Dmitrij Belkin in Berlin. © imago / Tagesspiegel / Kitty Kleist Heinrich
Dimitrij Belkin im Gespräch mit Ute Welty · 05.11.2018
Zukunft und Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland stehen ganz oben auf der Agenda des jüdischen Zukunftskongresses. Kurator und Buchautor Dimitrij Belkin über Verständnis und Selbstverständnis von in Deutschland lebenden Juden.
Ute Welty: Gelebter Pluralismus, Erinnerung als Verbindung oder auch die Frage nach einem jüdisch-muslimischen Dialog – nur drei Themen von vielen, die ab heute auf dem jüdischen Zukunftskongress in Berlin erörtert werden. Dimitrij Belki koordiniert diesen Kongress. Er ist Buchautor und Kurator, und er kam 1993 als jüdischer Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland. Guten Morgen, Herr Belkin!
Dmitrij Belkin: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Eine Debatte über die Rolle von Juden in der deutschen Gesellschaft, das ist nicht denkbar ohne den Blick auf die Vergangenheit. Inwieweit sollten wir aber vielleicht doch mehr über Zukunft reden?
Belkin: Wir sollten über Zukunft reden, das ist tatsächlich Gegenstand unseres Kongresses, der heute beginnt. Ausschlaggebend war, dass ich das Gespräch zwischen dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer und dem Vorsitzenden der Leo Baeck Foundation Rabbiner Walter Homolka, und Herr Lederer hat gesagt, man gedenkt, um die Gegenwart zu verändern sozusagen, um nach vorne zu schauen. Das war ein bisschen ausschlaggebend auch für die Reflexion, was machen wir. Wir haben richtig alle Dimensionen sozusagen in dieser Zeitspanne angesprochen, und für uns ist unter anderem … also Zukunft ist ganz, ganz zentral für diesen Kongress.

"Wir sind in der Gegenwart"

Vergangenheit bleibt ausschlaggebend, aber wir sind in der Gegenwart, und eine Reflexion über die Zukunft ist nur möglich, weil eine Gegenwart des jüdischen Lebens in Deutschland da ist. Das heißt, es gibt Juden und Jüdinnen hier, die agieren wollen, die leben wollen, die kommunizieren wollen, gesellschaftlich mitmischen. Das Motto unseres Kongresses, "Weil ich hier leben will", deutet eigentlich daraufhin, ich will hier leben, um zu gestalten. Ich will hier leben, um mitzumischen. Ich will hier leben, um zu diskutieren, zu polemisieren, um auch Ruhe zu haben, um auch Familie haben zu können, um auch ein religiöses Leben führen zu können.
Welty: Wenn Sie über Juden in Deutschland sprechen, welche Formulierung bevorzugen Sie da? Ist das deutsches Judentum oder ist das Jüdischsein in Deutschland?
Belkin: Das ist sehr individuell. Ich bin dankbar, dass Sie jetzt mich gefragt haben. Ich persönlich habe nichts dagegen zu sagen deutsches Judentum. Das haben wir auch versucht vor zehn Jahren in Frankfurt, da durfte ich eine Ausstellung kuratieren mit der russisch-jüdischen Sammlung, und ich habe gesagt deutsches Judentum 2.0. Es gibt immer Schwierigkeiten mit diesem Wörtchen deutsch in Bezug auf Juden. Wenn man sagt, nach der Schoah gibt es keine deutschen Juden mehr, ist die Frage, wie man das versteht.

Antisemitismus nicht in alt und neu getrennt

Wenn man aber den heutigen Nationalisten, der AfD und den anderen sozusagen, diesen Diskurs nehmen will und sagen, wir reflektieren jetzt über ein deutsches, europäisches Judentum, dann sehe ich hier überhaupt keine Schwierigkeiten. Aber das ist zum Beispiel eine Frage, die extrem offen ist und eine Frage, die auch polemisch diskutiert wird, auch bei unserem Kongress.
Welty: Wie groß sind die Ängste der jüdischen Gemeinschaft vor altem und vor neuem Antisemitismus?
Belkin: Vor allem sind dieses Ängste so, dass der Antisemitismus, glaube ich, innerjüdisch sehr wenig auf alt und neu getrennt wird. Zu sagen, es gibt jetzt etwas, was jetzt radikal neuen Antisemitismus darstellt – es gibt Konstanten des Antisemitismus, die erstaunlich fest sind – das interessant ist, die Welt sich rasant ändert. Die Welt ist heute eine andere, es ist auch eine digitale Welt, es ist auch eine mobile Welt, es ist eine Welt, in der die Grenzen verschwinden. Nur das bleibt paradoxerweise und tragischerweise auch konstant. Es gibt einen Antisemitismus, der sich rasant in sozialen Netzwerken, in Social Media verbreitet. Das heißt, der wird jetzt auch lauter, und der wird auch disparater. Es gibt Antisemitismus von links, von rechts und von der Mitte. Es gibt auch Antisemitismus der neuen Einwanderer aus muslimischen Ländern. Aber die Angst ist groß, weil die Zeit instabil ist. Leider ist die jüdische Gemeinschaft ein Indikator, ein Seismograf dieser Entwicklungen in der Welt. Der Antisemitismus kommt leider immer dazu, wenn die Krisen zunehmen, wenn sie sich zuspitzen. Aber das ist auch die Agenda dieser neuen Generation der Juden und Jüdinnen, die wir beim Kongress ansprechen, die sagen, wir haben was dagegen, wir suchen neue Allianzen, wir suchen neue Zusammenhänge. Wir versuchen jetzt eine jüdische Zivilgesellschaft in Deutschland zu etablieren, um zu sagen, wir haben da was zu artikulieren.

"Wie wollen wir zusammenleben"

Welty: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist vielstimmig und vielsprachig. Da gibt es die Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, aber auch vermehrt junge Israelis, die nach Berlin ziehen. Gibt es für die alle eine Zukunft oder doch eher verschiedene Zukunftsmodelle?
Belkin: Es gibt selbstverständlich Zukunftsmodelle. Es ist nur eine große Frage, wie man diese Pluralität definiert, denn man kann ja sozusagen kein Amt für Pluralität, kein Amt für eine Vielfalt schaffen. Das ist gewissermaßen auch eine Quadratur des Kreises, zu sagen, wir bleiben eine Gemeinschaft oder Gemeinschaften mit gewissen Konstanten der jüdischen Kultur, des Selbstverständnisses und so weiter, und zugleich bleiben wir auch plural, wir bleiben vielfältig. Das ist etwas, was der Kongress auch sehr offen thematisieren wird. Wir wollen auch uns selber hinterfragen, wie wollen wir denn zusammenleben, wie viele Dächer brauchen wir für diese Gemeinschaft.
Welty: Wie sieht denn dann die Zukunft von Integration aus, und wie wichtig ist das gerade auch im Zusammenhang mit Max Czollek und seinem Buch "Desintegriert euch"?

Ein neues jüdisches und gesellschaftliches Miteinander

Belkin: Ich schätze Max Czollek und sein Buch sehr. Max Czollek kommt auch vom Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, jüdische Begabtenförderung sozusagen. Ich habe jetzt vier Jahre, knapp vier, fünf Jahre für ELES gearbeitet, und wir haben auch sehr viel mit Max zusammengearbeitet bei Seminaren, wo er auch seine Thesen präsentiert hat. Ich glaube, die Generation, für die dieses Buch steht und diese These, sucht jetzt eine ganz starke Antiposition zu diesen integrativen Diskursen: Wir brauchen jetzt symbolische Juden für unsere deutsche Erinnerungskultur, und die sollen dazukommen und uns irgendwie Zeugenschaft ablegen, und dann sagen diese jungen Intellektuellen, weg davon, desintegriert euch. Mir schwebt in diesem vor – und ich glaube, das könnte auch ein Modell sein für Zukunftskongress oder Kongresse, falls danach welche später kommen sollten – etwas Synthetisches. Das heißt, These ist Integration, Antithese ist Desintegration, Synthese ist Versuch, ein neues jüdisches und gesellschaftliches Miteinander zu etablieren.
Welty: Dimitrij Belkin war das im "Studio 9"-Gespräch, denn heute beginnt in Berlin der jüdische Zukunftskongress. Herr Belkin, ich sage danke, und ich wünsche eine gute Veranstaltung!
Belkin: Ich danke Ihnen sehr herzlich!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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