Würdigung für einen mutigen Richter
Jan-Robert von Renesse hat sich über Jahre dafür eingesetzt, dass Holocaust-Überlebende eine Getto-Rente erhalten. Sein Einsatz hat dem Richter fast den Job gekostet. Nun erhält er für sein Engagement den "Preis für Menschlichkeit".
Montagnachmittag im Essener Sozialgericht: Sozialrichter Jan Robert von Renesse ruft zur Sache auf. Eine knappe Stunde später legt der 51-Jährige seine Robe in seinem Arbeitszimmer ab, darunter trägt er einen grauen Janker. Neben seinem Schreibtisch hängt ein berühmtes Foto: der Kniefall Willy Brandts im Warschauer Getto.
"Das ist ein ganz großer Moment in der Geschichte, auch einer der wenigen Punkte, warum man trotz der deutschen Geschichte ‚Ja‘ zu diesem Land sagen kann."
Das Leid der Juden in den Gettos hat den Sozialrichter über ein Jahrzehnt beschäftigt. 2006 bekam er seine erste Klage auf eine Getto-Rente auf den Tisch. Jahre davor hatte der Bundestag entschieden, dass Holocaust-Überlebende, die in den von den Nazis errichteten Gettos geschuftet hatten, Anspruch auf eine Rente haben. Doch über 90 Prozent der Anträge wurden abgelehnt. Ein schwer verständlicher Fragebogen war schuld, das begriff von Renesse sofort.
Keine Entscheidung nach Aktenlage
"Jetzt haben die Überlebenden als einzigen Nachweis die eintätowierte Nummer am Arm gehabt, die hatten ja keinerlei Nachweise erhalten. Wie kann man jetzt menschlich und historisch verantwortlich ermitteln? Da war ich eben der Meinung, das geht nicht mit irgendeinem Fragebogen, sondern man muss mit den Menschen persönlich reden, um dann stückchenweise herauszufinden, an was sie sich noch erinnern von der Beschäftigung."
Der Richter wollte nicht nach Aktenlage entscheiden. Mehrere Male flog er nach Israel, hörte dort über 150 Antragsteller persönlich an. Und er holte Gutachten ein. Infolgedessen sah er in etwa 60 Prozent der Fälle einen Rentenanspruch als begründet an. Weil er die Spruchpraxis seiner Kollegen in Frage stellte, wurde von Renesse kritisiert und ausgegrenzt. Auch, als 2009 das Bundessozialgericht entschied, die Beweisanforderungen für Getto-Renten zu erleichtern.
"Im Grunde wurde mir fast schon vorgeworfen, dass ich diese Überarbeitung mitverursacht hatte. Es war ein reiner Alptraum. Man kann es im Grund vergleichen mit Fritz Bauer. Der hat mal gesagt: Wenn ich die Tür zu meinem Büro aufgemacht habe, so wie ich hier, dann betritt er Feindesland. Das war zeitweilig wirklich so."
Vorwurf: Unkollegiales Verhalten
2010 bekommt Renesse eine Eintragung in die Personalakte, er "verursache Reibungsverluste" und sei "unkollegial". Ihm wird die Zuständigkeit für Getto-Renten entzogen. 2012 wendet er sich mit einer Petition an den Bundestag, schildert darin die Widerstände in seiner Behörde. Das zieht ein Disziplinarverfahren nach sich – als Kläger: der nordrhein-westfälische SPD-Justizminister Thomas Kutschaty. Der Richter habe den Ruf der Justiz geschädigt, so der Vorwurf. Vor dem Richterdienstgericht drohen ihm Konsequenzen, von Besoldungskürzung bis hin zu "Entfernung aus dem Dienst".
"Das macht schon schlaflose Nächte, das war existenzbedrohend. Und das war letztlich der Grund, warum ich dem Vergleich, der eben nicht zu einer gerichtlichen Klärung geführt hat, zugestimmt habe."
Im September 2016 kommt es zur Einigung, über deren Inhalt Stillschweigen vereinbart wird. "Richter Mundtot" titelt die Wochenzeitung "Die Zeit" über den Fall. Fest steht: von Renesse hat einen Maulkorb, er darf die Kritik am nordrhein-westfälischen Sozialgericht nicht wiederholen.
Richter mit Maulkorb
"Das ist das letzte Kapitel in der sogenannten Wiedergutmachung und es war die letzte Gelegenheit, mit Überlebenden des Holocaust ein Stück weit Versöhnung zu erreichen. Diese Chance ist im Großen und Ganzen nicht wahrgenommen worden. Es wäre gut, wenn darüber eine kritische Aufarbeitung stattfindet. Da kann ich aufgrund des Maulkorbs nicht dran mitwirken. Ich glaube aber, dass die Justiz nicht gut damit beraten ist, man fährt immer schlecht mit Rede und Denkverboten und es ist besser, mit eigenem Versagen umzugehen."
Mittlerweile sind fast alle Getto-Renten bewilligt. Doch für viele Tausende Holocaust-Überlebende kam die Bewilligung zu spät, sie sind verstorben. Von Renesses Verdienst würdigen in diesem Jahr nicht nur die Janusz-Korczak-Akademie, auch die Stadt Dachau und die jüdische Gemeinde Düsseldorf mit Preisen. Und doch bleibt für den Juristen ein schaler Beigeschmack.
"Ich bin im dienstrechtlichen Sinne nach wie vor nicht rehabilitiert und werde gleichzeitig geehrt. Das ist doch eine sehr paradoxe Situation."