Jüdische Jahrestagung der B'nai B'rith

Über die Unsicherheit jüdischen Lebens in Europa

Zwei Schatten sind vor einer Leinwand zu sehen, auf der steht: "Die Zukunft der Juden in Europa"
Auf der B'nai-B'rith-Konferenz ging es um die Situation der Juden in Europa © Uwe Steinert/Imago
Von Sebastian Engelbrecht · 25.01.2019
Wenn sich eine der größten jüdischen Organisationen, B'nai B'rith, in Berlin trifft, kommen sie alle: Publizisten, Botschafter und Beauftragte der Bundesregierung. Doch es war keine freudige Veranstaltung: Denn die Angst vor antisemitischen Übergriffen nimmt zu.
Der israelische Botschafter in Berlin, Jeremy Issacharoff, nannte drei bedrohliche Tendenzen für die jüdischen Gemeinden in Europa: Der Antisemitismus wächst; die rechtspopulistischen Parteien werden stärker; und die Migration aus muslimischen Ländern nach Europa geht weiter. Mit einem Beispiel brachte Issacharoff seine Zuhörer auf den Boden der Tatsachen. Er erinnerte an den erschütterndsten Fall einer antisemitischen Hetztirade. Jorai Feinberg, der Besitzer eines israelischen Restaurants in Berlin, zeichnete sie im Dezember 2017 auf.
Issacharoff sagt dazu: "Im vergangenen Jahr konnte man einen Berliner hören, der mit einem jüdischen Restaurantbesitzer streitet. Nach ein paar Minuten sagt er ihm: ‚In fünf oder zehn Jahren seid Ihr alle wieder in den Gaskammern‘ – das ist etwas, was mich aus der Fassung bringt, was mir riesige Sorge bereitet. Denn ich hätte nie gedacht, dass ich solche Worte jemals wieder hören würde, auf jeden Fall nicht in Berlin."

Botschafter wirbt für Israel als "sicheren Hafen"

Angesichts solchen rhetorischen – und auch gewaltsamen – antisemitischen Bedrohungen warb Issacharoff für Israel als eine Art sicheren Hafen für alle Juden auf der Welt. Israel tue alles dafür, dass sich die Shoa nie wiederholen werde.
Dagegen betonte der Historiker Michael Wolffsohn, heute schützten die Staaten Europas die jüdische Gemeinschaft. Es sei eine Illusion zu glauben, man könne Antisemiten von der Unsinnigkeit ihrer Haltung überzeugen. Dies werde nur in geringem Maße gelingen. Immerhin aber habe der Staat die Instrumente, um die Juden zu beschützen – und nutze sie auch. Große Veränderungen sieht Wolffsohn auch, was die interne Entwicklung des Judentums angeht. Heute heirateten 70 bis 80 Prozent der Juden in Deutschland Nichtjuden. Die wenigsten würden künftig noch einer jüdischen Gemeinde angehören, zudem werde es vor allem kleine orthodoxe jüdische Gemeinden geben. Die Zukunft des jüdischen Kollektivs sieht Wolffsohn so:
"Es wird nicht durch jüdische Substanz oder jüdische Religion oder Geschichte definiert sein, auch nicht durch die Art der Gemeinschaft – es sei denn der Antisemitismus der Außenwelt stößt es zurück in sein säkulares oder religiöses Jüdischsein. Eine solche Zunahme des Antisemitismus gibt es jetzt wieder. Islamistischer und antijüdischer Terror sind in der Lage, unsere jüdische Gemeinschaft ohne jüdische Substanz von innen zu erneuern."
Die größte Bedrohung für das jüdische Leben in Europa erkennt der Historiker Wolffsohn nicht in der inneren "Dejudaisierung", sondern vielmehr in der kontinuierlichen Einwanderung von Muslimen. Es gebe einen Import antijüdischer Haltungen aus dem Nahen Osten nach Europa.
"Neue rechtspopulistische Parteien sind eine Bedrohung, aber nicht die größte", sagt Wolffsohn. "Und wenn wir uns auf diese Bedrohung als die größte konzentrieren, verfehlen wir die Wirklichkeit. Und wir verfehlen die Wirklichkeit, wenn wir eine falsche Diagnose stellen. Dann können wir keine passende Therapie verschreiben."

Vor allem Rechtsextreme begehen antisemitische Übergriffe

Einen deutlich anderen Akzent setzte der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein. Nach sieben Monaten im Amt fand Klein, man könne keine schlimmste Form des Antisemitismus benennen. Aber er verwies darauf, dass 90 Prozent der politisch motivierten, antisemitischen Straftaten von Rechtsextremisten begangen würden, nur fünf Prozent von Muslimen und drei Prozent von Linksextremisten. Gleichwohl müsse die Gesellschaft gegen alle Formen des Antisemitismus vorgehen.
Klein sagt: "Es ist kein jüdisches Problem, sondern ein Problem der ganzen Gesellschaft. Ich kann nicht aufhören, das wieder und wieder zu wiederholen. Es ist ein giftiges Problem der ganzen Gesellschaft. Und wir brauchen das Engagement der ganzen Gesellschaft. Und natürlich dürfen wir den Kampf gegen Antisemitismus nicht Juden und jüdischen Organisationen überlassen."
Felix Klein bemüht sich um eine umfassende Strategie gegen Antisemitismus in Deutschland, eine Vernetzung der Organisationen, die den Antisemitismus bekämpfen. Vor allem in den Schulen und in der Bildungspolitik sieht er Handlungsbedarf:
"Zeugen und Holocaust-Überlebende werden nicht mehr lange präsent sein. Deshalb müssen wir Formen der Erinnerung an den Holocaust und an die Gräuel der Nazizeit finden, die jedermann ansprechen, auch Menschen mit Migrationshintergrund. Das ist vielleicht auch die wichtigste Herausforderung, die wir heute vor uns haben, weil wir das Niveau unserer Erinnerungspolitik verteidigen müssen, das wir erreicht haben – gegen die Angriffe der AfD und anderer Populisten, die zerstören wollen, was wir mit viel Energie in der deutschen Gesellschaft aufgebaut haben."
Felix Klein erntete den Beifall der jüdischen Zuhörer aus ganz Europa. Er verkörpert die Schutzfunktion des Staates für die jüdische Gemeinschaft, von der Michael Wolffsohn sprach – zumindest in Deutschland. Für Berlin übernahm das Kultursenator Klaus Lederer von der Linkspartei:
"Jüdisches Leben ist hier, um zu bleiben. In Deutschland und Berlin, natürlich in Europa. Seien Sie sichtbar! Ermutigen Sie Ihre junge Generation, selbstbewusst zu sein und ihren Weg in deutsche und europäische Organisationen und Demokratien zu machen. Sie sind alle Menschen des jüdischen Glaubens und werden Teil Berlins, Deutschlands und Europas bleiben. Ihre Perspektiven erweitern unsere Wahrnehmungen, die Glaubensrichtungen und Kulturen in dieser bunten und vielfältigen Stadt mit ihren vielen Konfessionen. Niemals könnten wir ohne Sie sein – und wir würden es auch niemals wollen. Sie sind unsere Freunde, und Sie werden hier gebraucht."
Auch hier applaudierte das mehrheitlich jüdische Auditorium. Ob Lederers Worte die Mitglieder von "B’nai B’rith" wirklich beruhigt haben, bleibt ein Geheimnis.
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