Jüdische Gemeindepräsidentin in Kairo

„Ich fühle mich wie der letzte Dinosaurier“

09:46 Minuten
Eine Frau in weißem Oberteil und mit Brille schaut lächelnd in die Kamera.
Magda Haroun ist die Präsidentin der jüdischen Gemeinde in Kairo. © Susanna Petrin
Von Susanna Petrin · 19.06.2020
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Rund 80.000 Jüdinnen und Juden lebten einmal in Ägypten. Nach der Staatsgründung Israels sank ihre Zahl beständig. Heute kann man die Kairoer Juden an einer Hand abzählen, das Ende der Gemeinde ist abzusehen. Was wird aus ihrem reichen Kulturgut?
Traurig: "Wie der letzte Dinosaurier", kurz vor dem Aussterben seiner Art, so fühle sie sich, sagt Magda Haroun. In Ägypten gehört die 68-Jährige zu den allerletzten ihrer Art: Magda Haroun ist Jüdin. Sie ist die Präsidentin der jüdischen Gemeinde Kairos. Diese besteht noch aus vier Frauen: "Von den Frauen bin ich die letzte, die noch auf zwei Beinen gehen kann. Ich trage die ganze Verantwortung."
In Alexandria leben offiziell nochmal etwa zehn weitere Menschen jüdischen Glaubens. Dabei blühte hier noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts das jüdische Leben. Zwischen 80.000 und 100 000 Jüdinnen und Juden lebten zu ihren Hochzeiten, von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in Ägypten.
Vor allem in den Städten Kairo und Alexandria waren sie ganz selbstverständlich Teil einer multikulturellen Gesellschaft. Sie nahmen an allen Aspekten des Lebens Teil: Wirtschaft, Kunst und Politik.

Viele fühlten sich in erster Linie als Ägypter

Juden bauten Eisenbahnlinien, gründeten Banken, führten Kaufhäuser, eröffneten Kinos, arbeiteten als Ärzte, Anwälte, Geschäftsmänner. Sie waren im Parlament und in der Regierung vertreten. Und sie trugen zum Kulturleben bei. Eine der Bekanntesten war die allseits beliebte Sängerin Laila Mourad.
Viele fühlten sich in erster Linie als Ägypter, in zweiter als Juden. Das bestätigen viele Ausgewanderte im ägyptischen Dokumentarfilm "Jews of Egypt". Ägypten war offener und toleranter als große Teile Europas. Zahlreiche aschkenasische Juden flüchteten bereits im 19. Jahrhundert aus Osteuropa hierher, später fanden weitere aus dem nationalsozialistischen Deutschland hier Zuflucht.
"Viele Juden flohen aus Zentraleuropa hierher", sagt Magda Haroun. "Aschkenasische Juden vor Pogromen, wie lange zuvor schon spanische Juden vor der Inquisition. Ägypten war für sie alle ein sicherer Ort."

Wachsender Antisemitismus seit 1948

Sehr lange waren Minderheiten in Ägypten sicher. Doch 1948, mit der Staatsgründung Israels und dem ersten Arabisch-Israelischen Krieg, wuchs der Antisemitismus. Juden begannen in Massen das Land zu verlassen.
Zwei weitere Exodus-Wellen folgten: 1956 infolge der Suezkrise und 1967 nach dem Sechstagekrieg. Ägyptischen Juden drohte Inhaftierung, Ausweisung und Aberkennung der Staatszugehörigkeit. Wer blieb, geriet unter den Generalverdacht, ein israelischer Spion zu sein. Wer ging, ging für immer. Jüdische Pässe wurden mit dem Vermerk gestempelt: "Ausreise ohne Wiederkehr".
Unter den wenigen, die in Ägypten ausharrten, war Magda Harouns Vater: ein Anwalt, ein Patriot, ein Kommunist, ein Anti-Zionist – und ein Dickschädel. Nicht immer hatte seine Tochter dafür Verständnis. Warum er denn geblieben sei, fragte sie ihren Vater. Er hatte die Vision, dass jemand das jüdische Erbe Ägyptens in die Zukunft retten müsse. Das verstehe sie nun im Nachhinein.
"Er wusste, dass die jüdische Gemeinde zu ihrem Ende kommt und dass wir als Bewahrer dieses Erbes eine aktive Rolle einnehmen müssen", sagt Magda Haroun.

Tränen der Freude

80 Synagogen standen einst allein in Kairo, zwölf davon sind geblieben. Außerdem findet man in Kairo den zweitältesten jüdischen Friedhof der Welt, den Bassatine-Friedhof. Letzten Winter ist die große Synagoge Alexandrias nach langer Renovierung wieder eröffnet worden. Über fünf Millionen Euro hat sich das der ägyptische Staat kosten lassen.
Magda Haroun war bei der Eröffnung dabei. Warum sie weine, fragte eine BBC-Reporterin. Das seien Tränen der Freude, antwortete sie. Magda Haroun weint auch, weil Menschen wie sie bald nicht mehr die Synagogen mit Leben füllen werden.
Die Sha'ar Hashamayim Synagogue, eine der letzten zwölf in Kairo
Die Sha'ar Hashamayim Synagogue, eine der letzten zwölf in Kairo© Susanna Petrin
Letzten Sommer starb ihre Mutter, bereits 2014 starb ihre Schwester. Magda Haroun hat die Leichentücher für sich und die weiteren Jüdinnen schon bestellt.
Die Menschen sind bald weg, die Gebäude aber bleiben und erinnern an eine multikulturelle, multikonfessionelle Koexistenz. Dafür zu sorgen, dass sie bewahrt werden, das sieht Magda Haroun als ihre Lebensaufgabe an. Und sie träumt davon, die Gotteshäuser anderweitig zu beleben.dann

"Synagogen zeigen, was Ägypten einmal war"

"Diese Synagogen sind ein Beweis dafür, was Ägypten einmal war", sagt Magda Haroun. "Sie sind ein Schatz. Sie nährten einst die Seelen, nun wünsche ich mir, dass sie Leute zusammenbringen und ihren Verstand bereichern. Ich möchte, dass sie als Kulturzentren genutzt werden: mit Konzerten, Lesungen, Ausstellungen. So werden wir nicht vergessen und tun gleichzeitig etwas für unser Land."
Zu diesem Zweck hat Magda Haroun eine NGO namens "Drop of Milk" neu ausgerichtet. Junge Muslime und Christen engagieren sich darin für das jüdische Erbe.
Zum Beispiel Soraya Baghat, die in Kairo eine deutsche Schule besucht hat.
"Ich finde, dass es eine sehr wichtige Arbeit ist, um dieses sehr reiche und wunderschöne jüdische kulturelle Erbe Ägyptens zu beschützen, für die nächsten Generationen", sagt sie. "Das ist das Testament für die Leadership von einer Frau wie Magda: Dass sie eine junge Gruppe von Ägyptern - Muslime, Christen - zusammengebracht hat, um gemeinsam dieses kulturelle Erbe zu beschützen."

Engagement für Toleranz und ein multikulturelles Ägypten

Drop of Milk hat sämtliche Bestände inventarisiert, organisiert Veranstaltungen und hat letzten Winter die US-Botschaft dafür gewinnen können, die Renovierung des verfallenden Bassatine-Friedhofs zu finanzieren.
Warum engagiert sich eine junge Muslimin ehrenamtlich für jüdisches Kulturgut? "Weil das ein Teil von meinem Land ist", sagt Soraya Baghat. "Und es ist mir sehr wichtig, falls ich Kinder habe, dass meine Kinder auch in einer multikulturellen, multireligiösen, toleranten Umgebung aufwachsen."
Es ist Mittag. Imamgesang durchdringt Magda Harouns Anwaltsbüro. Juden hatten sich gemäß Archäologen bereits vor rund 2600 Jahren in Ägypten niedergelassen, in der Nähe von Assuan. Das belegen pharaonische Papyrusrollen. In die jüdischen Erzählungen hat sich das Land Ägypten für immer eingegraben, denn die Tora weiß zu sagen, dass hier schon Israeliten lebten - bevor Moses Sie aus der Sklaverei befreite und ins gelobte Land führte.
So oder so: Eine Geschichte von mehreren Tausend Jahren geht sehr bald zu Ende. Glaubt Magda Haroun, dass das jüdische Erbe hier weiterleben wird, auch ohne Juden? Ihre Antwort kommt schnell. Ob es noch Pharaonen gibt, fragt sie rhetorisch. Wie den Pyramiden und Tempeln so werde es auch dem jüdischen Erbe ergehen.
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