Judith Kerr: "Geschöpfe. Mein Leben und Werk"

Tiger, Katze und Kaninchen

Das Buchcover "Geschöpfe" und die britische Autorin Judith Kerr
Judith Kerr erzählt aus ihrem Leben in dem Buch "Geschöpfe" © Edition Memoria / picture alliance / PA Wire / Gareth Fuller / Collage: DLF Kultur
Von Carsten Hueck · 04.08.2018
Die Londoner Autorin Judith Kerr hat ein liebevoll gestaltetes Buch über ihre zahlreichen "Geschöpfe" geschrieben und gezeichnet. Die 95-Jährige erzählt von ihrem Vater Alfred Kerr, der Flucht aus Deutschland und dem Leben in England.
Was würden Sie machen, wenn Sie mit Ihrer kleinen Tochter beim Tee sitzen und es plötzlich an der Tür klingelt? Natürlich öffnen – genau das tut die kleine Sophie. Herein kommt ein durstiger und hungriger Tiger, der in aller Seelenruhe, unter Wahrung höflicher Umgangsformen, die ganze Küche leer frisst, selbst die Wasserleitung ausschlürft und sich schließlich freundlich winkend wieder verabschiedet.
"Ein Tiger kommt zum Tee" heißt das von Judith Kerr geschriebene und illustrierte Buch, das vor 50 Jahren in London herauskam. Damals lebte die Autorin über 30 Jahre schon in der britischen Hauptstadt. Über ihre Herkunft, die Flucht aus Deutschland 1933, ihr Familien-und Berufsleben berichtet die heute 95-Jährige im jüngst erschienenen, liebevoll edierten Band "Geschöpfe. Mein Leben und Werk".
Judith Kerr, Tochter des legendären Schriftstellers und Theaterkritikers Alfred Kerr und seiner Frau Julia, wurde in Berlin geboren. 1933 zieht sie mit den Eltern und ihrem Bruder in die Schweiz, dann nach Paris, drei Jahre später nach London. Mit im Gepäck: Zeichnungen der Sechsjährigen. Die Mutter hatte sie mitgenommen. Man lebt in beengten Verhältnissen, der Starkritiker Kerr hat kaum mehr Publikationsmöglichkeiten, die Mutter schlägt sich mit Sekretärinnenjobs durch. Judith geht mit 16 von der Schule ab, um die Familie mit zu ernähren – ein Flüchtlingsschicksal unter vielen.

Toleranz und Humor

1940, schreibt sie, sei sie Engländerin geworden. Sie entdeckt die Freundlichkeit der Engländer gegenüber den "mit unverkennbar deutschem Akzent" sprechenden Ausländern, die britische Toleranz und den britischen Humor. Judith Kerr nimmt Zeichenkurse und erhält nach Kriegsende durch Vermittlung ihres Lehrers ein Stipendium, das eigentlich nur in England Geborenen zusteht. Sie entwirft Stoffmuster, malt, nimmt an Ausstellungen teil, arbeitet als Kunstlehrerin.
Eines Tages isst sie zufällig in der Kantine der BBC zu Mittag. Und lernt den Drehbuchschreiber Nigel Kneale kennen, den sie zwei Jahre später heiratet. In den folgenden Jahren macht Judith Kerr Karriere als Lektorin und Drehbuchautorin für die BBC. Sie wird zweifache Mutter, und als die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind, entsteht die Geschichte vom Tiger, der zum Tee kam.

Abenteuer der Katze Mog

Sie ist der Beginn von Judith Kerrs zweiter Karriere als Kinderbuchautorin und -illustratorin (bis heute fünf Millionen Mal verkauft). Angeregt von Dr. Seuss' "The Cat in the Hat" erfindet sie die Katze Mog, deren Abenteuer sie in immer neuen Bänden bis 2002 gestaltet. Ihre Kindheit und Jugend verarbeitet sie in drei Erzählungen; die bekannteste ist "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl".
Haustiere und Tierhelden ihrer Bücher, wie auch die eigene Familie bezeichnet Judith Kerr als "ihre Geschöpfe". Über die innigen Beziehungen zu ihnen gibt der vorliegende Band liebevoll Auskunft. Er zeigt Skizzen und Faksimiles, Fotos und Entwürfe – kurzum die ganze Palette des zeichnerischen Werks von Judith Kerr sowie Dokumente ihrer Familiengeschichte.

Judith Kerr: Geschöpfe. Mein Leben und Werk
Aus dem Englischen von Ute Wegmann
176 Seiten, 300 Abbildungen, 36 Euro
Edition Memoria, Köln 2018

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