"Juden-Porzellan" und "Judeninsel"

Von Michael Hollenbach · 01.11.2013
Das jüdische Leben im Nordwesten Deutschlands ist Thema einer Veranstaltungsreihe der Kulturbehörde "Ostfriesische Landschaft". 17 Einrichtungen zeigen, wie arm die meisten Juden in der Region lebten, und wie sich in den 1930er-Jahren viele auf die Auswanderung vorbereiteten.
Der 71-jährige Fritz Wessels erforscht seit 25 Jahren die Geschichte der Juden im Rheiderland, jener grenzüberschreitenden Region westlich von Leer. Dabei ist er auch vielen Einzelschicksalen nachgegangen. So erinnert Wessels an einen jüdischen Viehhändler aus Stapelmoor, der freiwillig in den Ersten Weltkrieg zog, 1942 nach Holland fliehen musste und dort untertauchen konnte. 1956 kam er zurück in seine Heimat:

"Samuel Lazarus, ein Original aus dem Dorf, der so mutig war, dass er sich seine Möbel, die ihm die Nazis weggenommen hatten, nachdem er dort verschwinden musste, die hat er sich wieder selber im eigenen Dorf zusammengesucht. Ist bei den großen Nazis gewesen, die er kannte, und hat gesagt: 'Det Schrank, de he steiht, des is min. … Polizei wie hie.'"

Ostfriesische Juden flohen nach der Pogromnacht in die Niederlande, doch nach der Besatzung wurden viele von ihnen vom holländischen Lager Westerbork in die Konzentrationslager des Ostens deportiert.

Dienstags vormittags gingen die Züge aus Westerbork, und die meisten Züge hielten in Weener, sodass die angrenzende Bevölkerung um den Bahnhof herum miterlebt hat, mitgesehen und auch mitgehört hat, die Schreie und Rufe der Menschen nach Wasser und nach etwas Essbaren.

In dem Grenzstädtchen Weener weisen heute nur noch wenige Gebäude darauf hin, dass es hier einmal ein blühendes jüdisches Leben gegeben hat mit einer eigenen Gemeinde, einer Synagoge und einer jüdischen Schule.

Die Anfänge der jüdischen Geschichte im Nordwesten Deutschlands lassen sich zurückverfolgen bis ins 16. Jahrhundert. Vor allem Mitte des 17. Jahrhunderts, nach dem Dreißigjährigen Krieg, kamen viele Juden nach Ostfriesland, berichtet Georg Murra-Regner:

"Ostfriesland war so ausgepowert durch Geldforderungen, dass nichts mehr lief. Jetzt musste man auch aufgrund der vielen Toten jüdische Leute heranholen, um den Handel und Wandel voranzubringen."

1671 erlaubte Fürstin Christine Charlotte der Gemeinde im Rheiderland, einen eigenen Friedhof anzulegen:

Wessels: "Denn vorher musste die Juden möglichst innerhalb der vorgeschriebenen Zeit von 24 Stunden ihre Toten in Emden beerdigen, das ist für Sommerverhältnisse gerade noch zu schaffen – mit dem Boot über den Dollart. Aber im Winter bei Eis und Schnee … war natürlich sehr schwierig."

Authentische Kulturgegenstände
In Dornum, im Norden Ostfrieslands, existiert heute die einzige Synagoge der Region. Dem ehemaligen Lehrer Georg Murra-Regner war es Ende der 80er-Jahre gelungen, die ehemalige Synagoge vor dem Abriss zu bewahren. Heute ist Murra-Regner Leiter der Dornumer Gedenkstätte. 500 authentische Kultgegenstände, die er gesammelt hat, sind in der alten Synagoge zu sehen.

"Die Synagoge wurde deswegen nicht zerstört: Sie liegt mitten in einer Häuserzeile, die anderen Häuser haben nur einen Meter Abstand. Wenn man die Synagoge angezündet hätte, wäre die ganze Straße abgebrannt."

Das Haus der örtlichen NSDAP lag nur zwei Häuser weiter. Anders als in den großen Städten habe in den ostfriesischen Kleinstädten jeder jeden gekannt: nicht nur die jüdischen Bürger, sondern auch die Nazis.

"In Ostfriesland sagt man: Warum hat der Karl das mitgemacht, warum hat der Willi das mitgemacht. Das Dorf war klein, die waren zusammen zur Schule gewesen, die wohnten einen Meter nebeneinander."

"Die Juden in Ostfriesland waren über die Jahrhunderte eher arm als reich,"

sagt Katrin Rodrian, die Leiterin der Kulturagentur der Ostfriesischen Landschaft.

"Also das Klischee vom reichen Juden ist nicht bedient worden. Das kommt auch durch die Preußen, die sehr hohe Abgaben verlangt haben. Es gab das sogenannte Juden-Porzellan: Wenn Juden heiraten wollten, mussten sie KPM-Geschirr kaufen, was wahnsinnig teuer war, schon damals."

KPM – das war die Königliche Porzellanmanufaktur Berlin, die dem preußischen König gehörte.

Die Reise ins jüdische Ostfriesland führt auch auf die Inseln. Während Borkum schon Ende des 19. Jahrhunderts verkündete, die Insel sei "judenfrei", galt Norderney Anfang des 20. Jahrhunderts – zur Kaiserzeit – als sogenannte Judeninsel.

"Viele Staatsbeamte fuhren nach Norderney in die Sommerfrische, und die ganzen Staatsgeschäfte liefen über das Post- und Telegrafenamt Norderney, wurden von Norderney aus durchgeführt. Dadurch gab es eine städtische Bebauung, und das hat wieder großstädtische Juden aus Hamburg und Berlin nachgezogen, und dann gab es auch Hotels, die mit koscherer Küche geworben haben."

"Wir stehen hier im Klassenraum der ehemaligen jüdischen Schule, mit einer alten Schulbank, einer alten Tafel und einem Kartenständer, aber bewusst minimalistisch im Gedenken an die Menschen, die hier gelernt und unterrichtet haben."

Jüngste Gedenkstätte in Ostfriesland ist die ehemalige jüdische Schule in Leer, die im September offiziell eröffnet wurde. Bis 1938 wurden hier jüdische Kinder unterrichtet, berichtet Anna Flume.

"Im Grundsatz war es eine Volksschule wie jede andere auch – mit dem Zusatz, dass hebräisch unterrichtet wurde, und sich nur der Religionsunterricht von den nicht-jüdischen Schulen unterschied. In den 30er-Jahren kam auch Französisch- und Englisch-Unterricht dazu, mit dem Blick darauf: eine mögliche Auswanderung."

In der ehemaligen Schule sollen wechselnde Ausstellungen jüdische Kultur und jüdisches Leben darstellen. Die Leiterin der Gedenkstätte, Anna Flume, will so vor allem mit gängigen Klischees aufräumen.

"Ich will unterstreichen, dass wir keine Holocaust-Gedenkstätte sind und auch kein Schulmuseum, weil in vielen Köpfen Judentum immer gleich Holocaust ist. Und deswegen setzen wir uns zum Ziel, jüdisches Leben damals und heute zu erklären."

Die ehemalige jüdische Schule in Leer ist eine von insgesamt 17 Einrichtungen, die zur Reise ins jüdische Ostfriesland einladen – in eine Region, in der es bis 1938 in jeder kleinen Stadt eine Synagoge gab, in der heute aber nur noch wenige Jüdinnen und Juden leben. Die nächste jüdische Gemeinde ist in Oldenburg, rund 80 Kilometer vom Zentrum Ostfrieslands entfernt.
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