Pogrom von Iași
Eine Holocaust-Gedenkausstellung in Bukarest zeigt ein Bild rumänischer Juden, die 1941 von den Behörden in Iași zusammengetrieben wurden. © picture alliance / AP Photo / Vadim Ghirda
In den Straßen floss überall Blut
10:13 Minuten

Am 29. Juni 1941 kam es in der rumänischen Großstadt Iași zu einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung. Etwa 15.000 Menschen wurden ermordet. Beteiligt an den Bluttaten waren Deutsche und Rumänen.
Es ist der Sommer der Fliegen, dieser Juni 1941. Sie sitzen überall. Auf dem Kuchen, den Decken, in jeder Ritze. Wer sich nicht bewegt, dem kriechen sie in die Augen, schwirren um den trockenen Mund. Sie laben sich an der menschlichen Schwäche in dieser stechenden Hitze, die alles niederdrückt in diesem Sommer, dessen Dunst bald nach Tod und Verderben riechen wird.
Im Keller versteckt
Bukarest, mehr als sechs Jahrzehnte später. Ein besonders heißer Tag. Die Klimaanlagen hecheln nervös. An den Straßenecken sitzen Melonenverkäufer, alles ein wenig verstaubt, aber in schierem Überfluss. Inmitten dieses Trubels, in einer einfachen Neubauwohnung, empfängt uns Lucia Wald. Sie ist - damals, im August 2007 - über 80 Jahre alt, eine Dame in feiner Bluse und schlohweißem Haar.
Sie beginnt zu erzählen von dem, was sie im Juni 1941 in ihrer Heimatstadt Iași erleben musste. „Wir versteckten uns in einem Keller vis à vis des Polizeihauptquartiers. Dann hörte ich, wie sie anfingen zu schießen.“
Sogar Nachbarn werden zu Feinden
Lucia, die eigentlich Lea heißt, ist 17 Jahre alt, als sich ihr Leben schlagartig verändert. Die Wehrmacht hatte gemeinsam mit rumänischen Hilfsverbänden wenige Tage zuvor die Sowjetunion überfallen. Nun bricht sich der ganze Hass nationalistischer Rumänen gegen ihre jüdischen Nachbarn Bahn.
In den Morgenstunden des 29. Juni, dem „Schwarzen Sonntag“, werden in der ehrwürdigen Universitätsstadt Iași Straßen abgesperrt. Rumänische Polizisten und Soldaten treiben die Juden der Stadt auf dem großen Platz vor der Präfektur zusammen.
Gegenüber wohnt Lucia Wald mit ihrer Familie, die sich dank der Hilfe von Nachbarn im Keller verstecken kann. Draußen flehen Menschen um ihr Leben. Soldaten brüllen, Schüsse peitschen durch die Luft. „Die Deutschen gaben den Befehl, aber geschossen haben die Rumänen.“
Auf dem Bett erschossen
Das ging den ganzen Tag, bis es dunkel wird. Lucia Wald harrt mit ihren Geschwistern und der Mutter im Keller aus. Sie haben Angst.
Tausende werden an diesem Sonntag im Beisein deutscher Einheiten von rumänischen Polizisten und Soldaten erschossen. Manche Juden werden von ihren Nachbarn aus den Häusern gezerrt, beraubt und erschlagen. Die Leichen bleiben in den Straßen liegen. Überall fließt Blut.
Schätzungsweise 15.000 Jüdinnen und Juden werden an diesem und den Folgetagen ermordet. Diesen schrecklichen Junimorgen erlebt als kleines Kind auch die Urgroßmutter von Shaul Bustan: „Die Mutter hat versucht, ihre drei Kinder zu verstecken, hinter dem Bett. Sie lag einfach auf dem Bett, ein Wehrmachtssoldat hat sie erschossen.“
Über Pogrom recherchiert
Der in Israel aufgewachsene Musiker Shaul Bustan, dessen einer Familienteil aus dem Iran stammt und der andere aus Rumänien, lebt heute in Flensburg. Er hat viel zu dieser Familiengeschichte recherchiert.
„Die Kinder erzählen, sie waren da sehr lang. Ob jetzt eine halbe Stunde oder vier Tage, das weiß man nicht. Dann kam die Tante und hat die Kinder sofort geholt und erst mal in einer Kirche versteckt und dann so unterwegs.“
Jener 29. Juni ist nur der Anfang. Am nächsten Morgen, so erinnert such Lucia Wald, klopft ein deutscher Offizier an die Tür. Den Vater und den Bruder nehmen sie mit. „Wir dachten, wir sehen sie nie wieder. Tatsächlich nahmen sie sie mit, um die Leichen unserer jüdischen Brüder, die Toten auf der Straße zu sammeln.“ Das Schlimmste steht den Überlebenden des Massakers noch bevor.
Rumänische Todeszüge
„Als sie die schweren Holztüren der Viehwaggons öffnen, fallen sie heraus, einer nach dem anderen, halbtot oder schon beinahe am Verwesen, stinkende Leiber, kleine Kinder, Jungen, Männer. Quer durchs Land sind sie zuvor gefahren worden, tagelang, mit verschlossenen Türen, ohne Wasser, bei sengender Hitze. Ohne Ziel, einfach so, kreuz und quer. Allein dafür, dass ihre Insassen einen möglichst qualvollen Tod sterben.“
Etwa 2000 Menschen werden in Viehwaggons gesperrt. Die meisten sterben qualvoll in diesen berüchtigten "trenurile morţii", den Todeszügen. Das Pogrom von Iași bildet den Auftakt für den Mord an mindestens 250.000 rumänischen Jüdinnen und Juden. Begangen von SS-Einsatzgruppen und ihren rumänischen Verbündeten, im Rahmen des „Barbarossa“ genannten Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion.
Ein Loch zum Atmen
Die meisten Opfer kamen aus der damals zu Rumänien gehörenden Bukowina und Bessarabien, Gebiete mit einst großen jüdischen Gemeinden. Sie wurden fast alle nach Transnistrien deportiert, in Lager gesperrt, zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Tausende wurden erschossen oder einfach erschlagen, ihre Leichen verbrannt und irgendwo in der Weite verscharrt. Shaul Bustans Urgroßvater hat den Todeszug von Iași überlebt.
„Er hat ein Loch im Zug gefunden und konnte ein bisschen einatmen. Er hatte einfach etwas Glück gehabt und diesen Zug überlebt. Dann war er im Camp, im Arbeitslager, da hat er sich auch verletzt, er hat seine Augen verloren. Aber irgendwie hat er doch überlebt.“
Verantwortung lieber abstreiten
Bustans Urgroßvater begegnete der Urgroßmutter, die sich als Kind in Iași verstecken konnte, später in Israel. Auch Lucia Wald hat das Pogrom, diese grauenvollen Tage im Juni 1941 überlebt. Ihr Neffe berichtete später als Überlebender vom Todeszug, der Onkel hatte diese Höllenfahrt nicht überstanden.
Rumäniens Diktator Ion Antonescu, verantwortlich für das Massaker von Iași, hatte 1943 nach der Niederlage von Stalingrad die Seiten gewechselt, was für manche der noch im Kernland existierenden Gemeinden die Rettung bedeutete. Zugleich aber auch ein Grund für viele Rumänen bis heute, jegliche Verantwortung für die begangenen Verbrechen abzustreiten. In einem Interview mit einem rumänischen Journalisten sagte Lucia Wald:
"Ich verstehe nicht, wie jemand aus der christlichen Liturgie kommen und dann seinen Nächsten töten kann. Ich glaube, es war damals eine Art Kollektivpsychose, weil es nicht zu erklären ist, wie sie auf uns Menschen, die bis dahin friedliche Nachbarn waren, zugestürzt sind. Es tut mir leid, dass die Rumänen das so spät akzeptiert und das Pogrom anerkannt haben. Warum wollten sie es nicht zugeben? Wir sind auch Rumänen! Wir haben zwei Herzen, zwei Seelen! Einerseits sind wir Juden, andererseits sind wir Rumänen."
Noch immer heißen Straßen nach Antonescu
Eine kleine Synagoge in Bukarest dient heute als Museum. Dort wird an die Geschichte der Todeszüge, an das Pogrom von Iași und die Shoah in Rumänien erinnert. Umrahmt von Hochhäusern, die zu Ceauşescu-Zeiten errichtet wurden, ist diese Synagoge jedoch nur schwer zu finden.
Im offiziellen Gedenken hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Doch noch immer tragen manche Straßen in Rumänien den Namen Ion Antonescu, sind Schulen nach Persönlichkeiten benannt, die als Antisemiten in der Zwischenkriegszeit agitierten, wie der Schriftsteller Octavian Goga. In Iași erinnert seit 2011 immerhin ein Mahnmal an das Pogrom.
Die jüdischen Gemeinden in Rumänien sind heute denkbar klein, landesweit sind es gerade noch etwa 10.000 Mitglieder, die meisten davon in Bukarest. Die Auswanderung, vor allem nach Israel, setzte schon bald nach der Etablierung des kommunistischen Regimes ein. Das verstärkte sich später noch durch die katastrophale Lage unter Diktator Ceauşescu.
Eine der letzten Überlebenden
Lucia Wald ist geblieben. Sie lebte seit 1944 in Bukarest, hatte Sprachen studiert, wurde eine auch international hoch geschätzte Professorin für Linguistik. Für das in ihrer Zeit notorisch antisemitisch geprägte Rumänien keine Selbstverständlichkeit. Lucia Wald war damals eine der letzten Überlebenden, eine der letzten Zeitzeuginnen des Pogroms von Iași. Aus ihren Augen sprach keine Verbitterung. Sie sagte später in einem Interview:
„Ich hoffe, dass diese schrecklichen Zeiten nie wieder passieren. Ich hoffe, wir können uns erinnern und uns für alles entschuldigen, was zwischen uns schief gelaufen ist. Ich erinnere mich stundenlang an alles, was passiert ist. Aber sich zu erinnern ist eine Sache. Vergebung ist etwas ganz anderes.“
Im Jahr 2018 ist Lucia Wald hochbetagt gestorben.