Juden in Serbien

Wir leben!

21:28 Minuten
Eine ältere Frau mit Hut, Maske und Krückstock steht vor einer Gedenktafel in Belgrad.
Ester Bajer konnte während des Zweiten Weltkriegs aus dem deutschen KZ dem sogenannten „Judenlager Semlin“ in Belgrad geschmuggelt werden. © Andrea Beer
Von Andrea Beer · 25.01.2021
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90 Prozent der Juden in Serbien wurden von den Nazis ermordet. Heute leben etwa 3.000 Jüdinnen und Juden im Land. Auch sie gedenken am 27. Januar der Opfer der Shoah und berichten, wie es ihnen im sozialistischen Jugoslawien erging.
Ester Bajer läuft über das weitläufige Gelände des Sajmiste, der Alten Messe in Belgrad. Die teils zerfallenden Gebäude werden kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut und sind aus deutscher Sicht damals bestens geeignet für ein KZ. Im sogenannten "Judenlager Semlin" werden nach der deutschen Besatzung im April 1941 zunächst rund 8000 jüdische Frauen und Kinder eingesperrt. Auch Ester Bajers Mutter, die damals mit ihr schwanger ist.


Der bunte Gehstock der grauhaarigen Dame klackt auf dem schneebedeckten, teils matschigen Boden. Zielsicher steuert sie auf ein hellbraunes Gebäude zu.
"Hier war das Krankenhaus."
Das frühere Lagerkrankenhaus, in dem sie am 31. Januar 1942 um zwei Uhr morgens auf die Welt kommt.

Bei Schnee und Kälte im Lager geboren

"Ich wurde im Lager geboren. Wegen der schlechten Behandlung und dem Stress hat meine Mutter früher entbunden. Ich war erst sieben Monate und habe 900 Gramm gewogen. Der Winter war sehr streng, Schnee gab es und Kälte."
Ester Bajer zieht ihren roten Mund-Nasen-Schutz zurecht. Die dramatischen Umstände ihrer Geburt in einem deutschen KZ im besetzten Belgrad kennt sie nur bruchstückhaft aus diversen Erzählungen. Die Kleine wird versteckt, in einer Schachtel aus dem Lager geschmuggelt und in ein Belgrader Waisenhaus gerettet. Sie bekommt den Namen Olga.
"Nach Kriegsende sagte mein Onkel Dragoljub Petkovic dann, was machen wir mit diesem Kind? Wollt ihr sie nehmen oder sollen wir sie zur Adoption freigeben? Meine Großeltern sagten: Gut, wir nehmen sie, sie ist schließlich die Tochter von unserem Sohn."

Du bist eine kleine Jüdin, hört Ester Bajer in ihrer Kindheit und versteht kein Wort. Zierlich, mager und oft krank, so verbringt sie von Zerstörung und Armut geprägte, oft lieblose jugoslawische Nachkriegsjahre. Das Trauma der Schoah ist im sozialistischen Jugoslawien und in der Familie kein Thema, und überschattet doch alles. Ihre Mutter - ermordet. Ihr nichtjüdischer Vater - im Krieg verschollen. Ihre Eltern kennt Ester Bajer nur von Schwarz-Weiß-Fotos.
"Ich kann es nicht beschreiben, ich habe sie nur auf Fotos gesehen. Ich muss ehrlich sagen: Ich empfinde nichts Besonderes, weder für meine Mutter, noch für meinen Vater. Großmutter und Großvater habe ich geliebt. Meine Großmutter war streng und hat mich geschlagen. Ich war ein lebhaftes Kind. Großvater war auch streng, wenn auch irgendwie anders."

Massengräber am Stadtrand von Belgrad

Nach dem Angriff im April ‘41 teilen Deutschland und seine Verbündeten das Königreich Jugoslawien unter sich auf. Die kommunistischen Partisanen verüben Anschläge und die Deutschen erschießen für jeden verwundeten Wehrmachtssoldaten 50, für jeden toten Soldaten 100 Zivilisten.
Jüdinnen und Juden werden systematisch entrechtet, beraubt, und fast alle Männer von der Wehrmacht erschossen. Im Frühjahr ‘42 werden die Frauen und Kinder aus dem deutschen KZ auf dem Sajmiste in Belgrad ermordet. Auch die Mutter von Ester Bajer muss in einen Lkw steigen, der sie mit Gas erstickt, unterwegs an den Stadtrand von Belgrad, wo die Massengräber schon ausgehoben sind.
"Nach dieser Zeit 1942 sind andere Gefangene in das Lager gekommen. Zum Beispiel weitere Zivilisten aus Serbien, Partisanen oder Zwangsarbeiter. Nur in der ersten Phase des Lagers waren hier ausschließlich Juden gefangen. Abgesehen von rund 600 Romnija mit Kindern, die aber freigelassen wurden. Hier war die letzte Station der Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Belgrad, ganz Serbien und im Banat. Man kann also sagen, dass dieses Gelände hier der wichtigste Ort des Holocaust in Serbien ist."


Der Historiker Milovan Pisarri macht Führungen über das frühere deutsche KZ-Gelände und kennt jedes Gebäude. Anfang der 50er-Jahre werden die Vorkriegs-Pavillons der Alten Messe zum Refugium jugoslawischer Künstler. Heute stehen viele der Häuser leer und sind zerfallen, einige sind bewohnt, in anderen gibt es kleine Restaurants. Kaffee trinken oder eine Kleinigkeit essen, das kann man auch im früheren Lagerkrankenhaus oder in der Leichenhalle des damaligen deutschen KZs.
Das Gelände der Alten Messe in Belgrad, auf dem sich das deutsche KZ "Judenlager Semlin" befand. Viele Gebäude sind heute in Privatbesitz und / oder zerfallen.
Das Gelände der Alten Messe in Belgrad, auf dem sich das deutsche KZ "Judenlager Semlin" befand. Viele Gebäude sind heute in Privatbesitz und / oder zerfallen.© Andrea Beer
Milovan Pisarri findet das problematisch. Der serbische Staat sollte das Gelände kaufen, findet er. Immerhin wurde nach langem Streit ein Gesetz verabschiedet, dass eine Gedenkstätte auf der Alten Messe ermöglicht. Auch auf Druck der Zivilgesellschaft, sagt Milovan Pisarri. Er arbeitet für das "Zentrum für öffentliche Geschichte".
Eine Nichtregierungsorganisation, die sich für einen wissenschaftlich fundierten und kritischen Blick einsetzt. Sei es auf die serbische Marionettenregierung von Milan Nedić während der Besatzung, sei es auf den serbischen Nationalismus beim Zerfall Jugoslawiens, sei es auf die Tito-Partisanen. Denn bis heute sind oft nur sie auf Erinnerungstafeln zum Zweiten Weltkrieg erwähnt.

Im Sozialismus wurde an den antifaschistischen Kampf erinnert

"Während der sozialistischen Zeit wurde nicht an einzelne Opfergruppen erinnert. Es wurden viele Mahnmale und Museen gebaut, die dem antifaschistischen Kampf der Partisanen gewidmet waren. Aber der zivilen Opfer wurde in der Regel nicht gedacht. Deswegen wurde hier auch nichts Entsprechendes gebaut.
Es gibt lokale Ausnahmen wie Kragujevac oder Kraljevo, wo die Deutschen Massaker an der Zivilbevölkerung verübt haben. Aber auf Staatsebene gab es keine Erinnerungskultur, die zum Beispiel an den Holocaust erinnert hat. Oder an den Völkermord an den Roma oder an den Serben im faschistischen "Unabhängigen Staat Kroatien". Das wurde nicht geleugnet, aber es war nicht Teil der offiziellen Erzählung."


Eine offizielle Erzählung, in der auch der serbische Jude Aleksandar Ajzinberg keinen Platz hat. Der 91-Jährige sitzt in seiner Belgrader Wohnung und macht Feuer mit einem Stein.
Ein Mann mit Maske sitzt in einer Wohnung vor einem Rechner.
Aleksandar Ajzinberg hielt sich nach 1941 in den serbischen Karpaten versteckt.© Andrea Beer
"Das ist ein Stück von Stahl, so eine scharfe Ecke."
Diesen Stahlring hat der höfliche Herr im karierten Hemd und Jeans zusammen mit dem schwarzen glatten Stein aus der Schublade geholt. Die Funken sprühen nicht so richtig und Aleksandar Ajzinberg lacht.
"Kann ich nicht besser. Früher habe ich höchstens dreimal dafür gebraucht."
Als Nazi-Deutschland und seine Verbündeten im April ‘41 angreifen, fliehen die jüdischen Ajzinbergs aus Belgrad. Vater Matvej fällt dennoch in die Hände der Deutschen. Aleksandar und seine Mutter landen mit gefälschten Papieren in den dünn besiedelten Homolje-Bergen der serbischen Karpaten. Der Bauer Ljubivoje Nikolić hat den Mut, Aleksandar und seine Mutter Greta zu verstecken. Erst bei sich, dann in einer abgelegenen Berghütte.


"Wir gingen in die Berge und er hat mir beigebracht, wie ein Wolf zu heulen. Das kann ich jetzt nicht wieder machen… Heult. So etwas. Was denken Sie, warum? Wenn du dich im Wald verirrst und heulst wie ein Wolf, dann fangen die Hunde an zu bellen. Und wo Hunde sind, sind auch Menschen, Viehzüchter mit ihren Schafen.
Pelzmütze, Axt, Messer, Lederschuhe und abgetragene, mehrfach reparierte Kleidung. So sah Aleksandar Ajzinberg als Jugendlicher im Wald aus.
Selbstporträt: Pelzmütze, Axt, Messer, Lederschuhe und abgetragene, mehrfach reparierte Kleidung. So sah Aleksandar Ajzinberg als Jugendlicher im Wald aus. © Aleksandar Ajzinberg
Und dann gehst du in diese Richtung. Geh aber nicht gleich zu einer Hütte hin, denn vielleicht sind dort Soldaten, sondern warte ein oder zwei Stunden. Wenn du durch den Wald gehst und plötzlich Vögel hochfliegen, dann geh zur Seite, weil dann jemand durch den Wald läuft. Hüte dich vor Stellen, an denen es Quellen gibt. Benutze keine Pfade. Denn da könnten Menschen sein. Lauf, abseits von Wegen. Er hat mir viel beigebracht, aber ich habe auch viel vergessen."

Versteckt im serbisch-rumänischen Grenzgebiet

Dreieinhalb Jahre lang bleiben Aleksandar und seine Mutter im serbisch-rumänischen Grenzgebiet. Ohne Vater, ohne zu Hause, ohne Arzt, ohne Schule, dafür mit Wölfen und Hunden, mit Hunger und Durst sowie ständig auf der Flucht. Sie essen alles, was der Wald hergibt, Pilze und Brenneseln, und trinken Quellwasser.
Doch sie brauchen dringend auch die Almosen von Bauern oder den königstreuen serbischen Tschetniks, die ihnen Essen geben und immer wieder Schutz. Denn es gibt Kampfhandlungen, an denen deutsche Wehrmacht, serbische Faschisten, Partisanen und mehrere Tschetnik-Gruppen beteiligt sind. Und immer wieder muss der junge Aleksandar um sein Leben rennen.


"Ich hatte nie Angst. Auch bei größter Gefahr nicht. Aber wenn die Gefahr vorbei war, habe ich angefangen zu zittern."
Ein älterer Mann mit Hut auf einer Wiese.
Der Bauer Ljubivoje Nikolić versteckte Aleksandar Ajzinberg und dessen Mutter Greta im serbisch-rumänischen Grenzgebiet.© Aleksandar Ajzinberg
Sein Alter sieht man Aleksandar Ajzinberg nicht an, als er sich am Computer durch sein Leben klickt, das er mit vielen Fotos und eigenen Zeichnungen dokumentiert hat.
"Bauern haben uns manchmal Kleidung gegeben. Ich habe auch eine Pelzmütze bekommen und mir eine Axt besorgt. So habe ich ausgesehen. Das sind alles meine Zeichnungen."
Der Junge auf dieser Zeichnung, der er selbst einmal war, trägt zu einer wilden Pelzmütze selbst gemachte Lederschuhe, mehrfach geflickte Kleidung, und hat zur langen Axt auch ein Messer parat. Auch wenn damals kaum jemand weiß, dass Mutter und Sohn Ajzinberg verfolgte Juden aus Belgrad sind, fürchten sie ständig, entdeckt zu werden. Woher kommt ihr, fragt einmal eine Bäuerin.

Konfrontation mit Vorurteilen

"Meine Mutter sagte: ´Wir sind aus Belgrad.` ´Ah, aus Belgrad. Stimmt es, dass es dort Juden gibt?` Meine Mutter sagte: ´Ja, die gibt es.` Und die Bäuerin fragte: ´Stimmt es, dass sie schwarz sind und Hörner haben?` ´Nein`, sagte meine Mutter: ´Sie sehen aus wie mein Kind und ich.`Und dann war das Gespräch zu Ende."
Im Oktober ‘44 befreien Rote Armee und Partisanen die Gegend und Aleksandar und seine Mutter können endlich nach Belgrad zurück. Der Umgang mit Menschen fällt ihm schwer, und er muss auch wieder lernen, mit Messer und Gabel zu essen anstatt mit dem Löffel. Er isst ja wie ein Tier, sagt seine Großmutter.
"Meine Großmutter sah mich essen und sagte: `Er isst wie ein Tier.`"

Nach dem Krieg erfährt Aleksandar Ajzinberg vom Tod des Vaters. Matvej Ajzinberg war im deutschen KZ Topovske Supe in Belgrad gefangen und wurde ermordet. Zur großen Trauer um ihn kommen weitere Schwierigkeiten. Denn die siegreichen Tito-Partisanen sind erbitterte Gegner der monarchistischen Tschetniks, denen Aleksandar ja sein Leben verdankt. Die Partisanen stecken den 15-Jährigen deswegen vorübergehend ins Gefängnis und machen ihm auch später das Leben schwer.
Ein Mann und ein Kind sitzen an einem Baum und schauen in die Kamera.
Matvej Ajzinberg wurde im deutschen KZ „Topovske Supe“ in Belgrad eingesperrt und später in einem Lkw von den Deutschen mit Gas getötet.© Aleksandar Ajzinberg
"Gut 35 Jahre lang war ich nicht in Homolje, denn es war die Zeit des Kommunismus. Obwohl ich erst 15 Jahre alt war, hätte es heißen können, dass ich mit den Besatzern zusammengearbeitet habe oder wer weiß was. Es sollte also viel Zeit vergehen, bis ich wieder hingegangen bin."
Trotzdem schafft es der talentierte Junge auf eine Zeichenschule und wird später Architekt wie sein Vater Matvej.

In Belgrad hat niemand Ester Bajer aufgenommen

Zurück zu Ester Bajer auf das Gelände der alten Messe in Belgrad. Zu ihrem grau melierten Kunstfellmantel trägt sie einen runden schwarzen Hut. "Na Hunde! Ist es kalt?", ruft sie ein paar Streunern zu. Außenseiter sein, verlassen sein, dieses Gefühl trägt sie wohl ein Leben lang mit sich herum. Schon mit 14 jobbt sie für einen Hungerlohn und boxt sich fortan durchs Leben. Sie heiratet früh und bekommt einen Sohn, der beim Vater in Kroatien aufwächst und sich nach der Scheidung entfremdet. Denn sie kehrt dann nach Belgrad zurück.
"Als ich nach Belgrad kam, gab es niemanden, der mich aufgenommen hat. Ich habe mit meinem Köfferchen auf einer Bank im Kalemegdan-Park geschlafen. Am nächsten Tag habe ich mir eine Zeitung gekauft und bin von Tür zu Tür gegangen, um Arbeit zu finden. Niemand wollte mich anstellen, da ich krank war, dünn und in einem jämmerlichen Zustand. Eine Frau hat sich dann meiner erbarmt und mich eingestellt, damit ich auf ihre Kinder aufpasse. So lief mein Leben. Von Haus zu Haus, von Job zu Job. Da habe ich viel Zeit verloren."


Sie nennt sich inzwischen nicht mehr Olga, sondern Ester Bajer wie ihre ermordete Mutter, und holt sie sich wenigstens so ein bisschen zurück. Als Köchin fährt sie mit der jugoslawischen Flussschifffahrtsgesellschaft die Donau hinauf bis Wien und wechselt dann in ein Büro. Ihre winzige Invalidenrente beträgt heute umgerechnet knapp 150 Euro. Unterstützt wird Ester Bajer von der Claims Conference und der jüdischen Gemeinde.
Viele Gebäude der Alten Messe in Belgrad, auf dem sich das deutsche KZ "Judenlager Semlin" befand,sind zerfallen.
Viele Gebäude der Alten Messe in Belgrad, auf dem sich das deutsche KZ "Judenlager Semlin" befand, sind zerfallen.© Andrea Beer
Gerne verschickt die alte Dame Handybotschaften und sie lauscht regelmäßig dem Rabbi in der Synagoge. Jetzt im Alter hole ich viel nach, lächelt sie, doch der Mensch lernt ein Leben lang und stirbt dennoch dumm. Seit Jahren wird um eine Gedenkstätte auf dem ehemaligen KZ-Gelände Sajmiste gestritten. Eine Diskussion, die auch Ester Bajer aufmerksam verfolgt. Sie gehört zu den ganz wenigen, die dem deutschen KZ auf dem Gelände der alten Messe in Belgrad lebend entkamen. Als Baby in einer Schachtel im eiskalten Januar 1942.
"Ich war so klein, dass sie dachten, ich überlebe nicht. Aber es scheint, als hätte ich einen kämpferischen Geist dafür gehabt."

Wie steht es um die Erinnerungskultur in Serbien? Ist das Gedenken an den Nazi-Terror gegen die Juden typisch für den Umgang mit Opfern in der Geschichte Serbiens? Ja, aber auch für den Umgang des ganzen westlichen Balkans, sagt Simon Ilse, Leiter des Belgrader Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Das Gespräch hören Sie am Ende dieser Weltzeit-Ausgabe. Viele weitere Reportagen aus aller Welt finden Sie in unserem Weltzeitpodcast – einfach abonnieren.

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