"Juden in kurzer Zeit in der Minderheit"

Volker Perthes im Gespräch mit Liane v. Billerbeck |
An eine baldige Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten glaubt Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die demografische Entwicklung zwinge Israel, die "Eigenstaatlichkeit der Palästinenser" zu akzeptieren.
Liane von Billerbeck: Heute beginnen in Washington die ersten direkten Friedensgespräche zwischen Israelis und Palästinensern seit zwei Jahren. Die vielen Hürden, die diesem Frieden im Wege stehen, die sind ja allen klar: Von den Siedlungen der Israelis in den besetzten Gebieten über die Hardliner in der eigenen Regierung bis zu den Bomben der Hamas.

Und doch hat man das Gefühl, dass trotz alledem der Frieden vielleicht diesmal eine Chance hat – denn der Druck auf die Israelis, sich mit den Palästinensern zu einigen, der wächst. Dazu muss man aber vielleicht in die weitere Zukunft schauen, und das wollen wir jetzt mal tun, und zwar mit Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Ich grüße Sie!

Volker Perthes: Ja, guten Tag!

von Billerbeck: Sie entwickeln ja auch Zukunftsszenarien für die Region, spielen wir das doch mal durch, Herr Perthes. Angenommen, es bleibt bei einem gemeinsamen Staat von Israelis und Palästinensern, wie würde das in der Region dann weitergehen?

Perthes: Ich glaube, es wird einen gemeinsamen Staat, jedenfalls als lebensfähigen Staat, von Israelis und Palästinensern kaum geben, weil er die Grundlagen dessen infrage stellen würde, was Israel sein soll und sein will, nämlich das zionistische Projekt eines demokratischen jüdischen Staates. Aber gleichzeitig, weil das so ist, weil man weiß, dass ein langfristiges Zusammenleben in einem Staat von Palästinensern und Juden, sagen wir mal in dem ganzen Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordangraben, eine demografische Situation schaffen würde, bei der die Juden in kurzer Zeit in der Minderheit sind – möglicherweise wären sie das heute schon.

Weil dies so ist und weil man das in Israel zunehmend weiß, ist in den letzten Jahren in Israel die Zustimmung in der Bevölkerung für eine Zweistaatlichkeit, also für die Eigenstaatlichkeit der Palästinenser neben dem Staat Israel gestiegen. Und die Perspektive, dass man zusammenleben müsste in einem Zwangsverband, weil man sich nicht trennen kann, ist für die meisten Analysten mit der Perspektive von ziemlich blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen verbunden.

von Billerbeck: Wenn Sie sagen in kurzer Zeit, von welchen Zeiträumen sprechen wir da?

Perthes: Also die Statistik ist ja immer politisiert, die ist auch bei Palästinensern und bei Israelis politisiert, sodass man sich nicht ganz einig ist, wie viel Palästinenser es zum Beispiel heute in der West Bank und im Gazastreifen gibt, aber wir können davon ausgehen, dass wir heute fast eine Situation haben, wo in diesem Gebiet zwischen Jordangraben und Mittelmeer eine etwa gleich große Zahl von Juden und Nichtjuden lebt, wobei die meisten Nichtjuden eben palästinensische Araber sind.

Und der palästinensische oder arabische Bevölkerungsteil wächst deutlich schneller als der jüdische Bevölkerungsteil, trotz einer stärkeren Immigration von Juden in den Staat Israel, aber da ist die große Welle, die es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab, mittlerweile abgeebbt, sodass wir davon sagen können, entweder haben heute in dem gesamten Gebiet zwischen Jordangraben und Mittelmeer schon die Nichtjuden, also die Araber, eine Mehrheit oder sie werden das zumindest in den nächsten fünf, sechs Jahren haben, das heißt, wenn wir jetzt die Weltpolitik mit in den Blick nehmen, bis zum Ende einer möglichen zweiten Amtszeit von Obama.

von Billerbeck: Sie sagen, in der Bevölkerung ist das ein Thema, dass sich da die Bevölkerungsanteile zuungunsten der Israelis verändern könnten. Ist das auch ein Thema für die ja doch eher rechte israelische Regierung?

Perthes: Ja, für Teile dieser Regierung auf jeden Fall. Wir haben da ganz unterschiedliche und zum Teil sehr interessante Konstellationen. Der frühere Ministerpräsident, Ehud Olmert, der ja auch aus der Rechten kommt, der mit Scharon aus dem alten Likud gekommen ist, hat das sehr früh erkannt und hat gesagt, wir müssen von uns aus für die Eigenstaatlichkeit Palästinas, eines Staates Palästina, neben Israel eintreten, weil wenn wir das nicht tun, dann werden diese Palästinenser irgendwann sagen, wir wollen volle Bürgerrechte in einem gemeinsamen Staat haben, was machen wir dann eigentlich, wenn die "one person, one vote", eine Stimme für jeden Einwohner fordern und wir in der Minderheit sind? Dann können wir nicht mehr gleichzeitig jüdischer Staat sein und demokratischer Staat, sondern entweder ein autoritärer Staat, der einem Teil der Bevölkerung die politischen Rechte verbietet, oder eben ein zwar demokratischer Staat, aber ohne jüdische Mehrheit, mit arabischer Mehrheit.

Dann gibt es in der derzeitigen Regierung mit Herrn Lieberman, also einem der extremen nationalistischen Siedler, dem derzeitigen Außenminister, Leute, die sagen: Ja, ja, wir müssen die Trennung durchführen zwischen Israelis und Palästinensern, wir müssen auch zwei Staaten haben, aber wir müssen das Territorium ganz anders zusammenschneiden, sodass die großen Siedlungen, möglichst alle Siedlungen,bei Israel bleiben und die Palästinenser können ja hier im Norden der Westbank und da im Süden der Westbank und vielleicht in der Mitte und im Gazastreifen ihr eigenes Gebiet haben, und vielleicht geben wir ihnen noch ein bisschen was von den arabischen Siedlungsgebieten im heutigen Staate Israel dazu, wo es heute schon eine Mehrheit von arabischer Bevölkerung gibt. Aber das hieße große Verschiebungen von Grenzen und auch von Bevölkerung.

von Billerbeck: Doch solche unterschiedlichen Positionen, die können ja jetzt während der Verhandlungen mit den Palästinensern kaum einzeln vertreten werden, da muss man ja vonseiten Israels eine Position vertreten. Also die Frage: Spielen solche Langzeitüberlegungen und solche demografischen Entwicklungen dann auch eine Rolle bei den Verhandlungen jetzt in Washington oder werden sie das tun?

Perthes: Also sie spielen auf der israelischen Seite immer eine Rolle, sie spielen in gewisser Weise auch auf palästinensischer Seite eine Rolle, weil man weiß, dass trotz der ganzen Schwäche, die man hat als palästinensische Autorität, das sozusagen der stärkste Faktor ist. Dass man sagt, wir gehen hier nicht weg, die Palästinenser gehen hier nicht weg, wir wachsen und wir wachsen im Zweifelsfall stärker, und die Israelis wollen ihren eigenen Staat haben, sie wollen in Ruhe gelassen werden, sie wollen eigentlich mit den Palästinensern nicht furchtbar viel zu tun haben – das ist das stärkste Argument, was wir unseren israelischen Nachbarn gegenüber bringen können, dass sie unsere Eigenstaatlichkeit, unsere Unabhängigkeit akzeptieren.

Bei den Israelis spielt es auch eine Rolle, aber man ist sich nicht einig, wie man damit umgehen will. Premierminister Netanjahu ist vor allem ein Taktiker, der auch auf die nächsten Wahlen schaut, und der sagt, na ja, in drei und vier Jahren wird das alles noch nicht so katastrophal werden, er ist offensichtlich sehr viel mehr an dem Prozess interessiert und daran, auch den Amerikanern und den Europäern zu zeigen, dass er bereit ist, sich auf Friedensbemühungen einzulassen, während wir mit Ehud Barak, dem derzeitigen Verteidigungsminister, einen durchaus strategisch denkenden Politiker haben, der sagt, es ist unser israelisches Interesse, dass wir diese Zweistaatenlösung hinbekommen, und wir machen das besser schnell als spät, denn je schneller wir es herbekommen, desto weniger Verluste, auch materielle Verluste und Verluste an Leben werden wir haben, und wir wissen, dass wir dazu bestimmte bittere Kompromisse machen müssen, also dass wir zum Beispiel – Ehud Barak hat das gestern ja auch so erklärt – auch über eine politische Teilung Jerusalems werden reden müssen.

von Billerbeck: Von ihm war ja auch der Vorschlag, da eine Sonderverwaltung einzusetzen, gerade für die Gebiete, wo all die Gebäude liegen, die für die Weltreligionen von Bedeutung sind, also die Klagemauer oder die Al-Aqsa-Moschee.

Perthes: Ja, das ist einer der Vorschläge, die eigentlich schon seit den Camp-David-Verhandlungen von 2000 auf dem Tisch sind, die keine große Begeisterung bei den Palästinensern, auch nicht bei allen Israelis auslösen. Aber das Wichtige ist hier, dass hier überhaupt konkrete Vorschläge auf den Tisch kommen, auch wie man mit Jerusalem umgeht.

Da gibt es die Clinton-Proposals, Clinton-Vorschläge, von 2000, wo man sagt, na ja, wir können Jerusalem politisch nicht mehr so teilen, wie das vor 1967 gewesen ist, weil es gibt einfach israelische Wohngebiete, jüdisch-israelische Wohngebiete im Osten der Stadt Jerusalem, die sind nun mal seit 40 Jahren da und die wird man nicht einfach abräumen können. Insofern müssen wir sagen, was heute arabisch ist, wird Teil der arabischen Hauptstadt Jerusalem, was heute jüdisch ist, wird Teil der jüdischen Hauptstadt Jerusalem oder der Hauptstadt Israels.

von Billerbeck: Wie wird eigentlich diese demografische Entwicklung, die in der Zukunft da zu erwarten ist – in der nahen Zukunft, wie Sie es ja geschildert haben –, in der israelischen Friedensbewegung gespiegelt?

Perthes: Die israelische Friedensbewegung weiß das und Teile der israelischen Friedensbewegung nehmen das auch als Argument, um dem mittleren oder auch dem rechten Spektrum in Israel zu sagen, schaut mal, wir sind hier nicht nur Peaceniks und Appeaseniks, sondern wir treten hier auch für das Eigeninteresse Israels ein, das Eigeninteresse, als jüdisch-demokratischer Staat überleben zu können und – was ja mindestens so wichtig ist – anerkannt zu werden in der großen arabischen Umgebung.

Aber für die eigentliche Friedensbewegung ist das nie das entscheidende Motiv gewesen. Hier ist das entscheidende Motiv tatsächlich das Friedensmotiv gewesen, wo Gerechtigkeit, Anerkennung in der arabischen Umwelt und letztlich auch die Sicherheit Israels, also die Sicherheit gegenüber Aggressionen von den arabischen Nachbarn oder von der islamischen Umwelt eine große Rolle gespielt hat.

von Billerbeck: Herr Perthes, Sie beschäftigen sich jetzt schon so lange mit dem Thema, wenn es nun wirklich bei diesen Verhandlungen eine Einigung geben würde, wir sehen dann die Zukunftsszenarien aus für eine Zweistaatenlösung, wie stellen wir uns das vor, auch im Kontext des Nahen Ostens?

Perthes: Auch hier kann man natürlich best cases und worst cases, beste Szenarien und schlechteste Szenarien, entwickeln. Das Beste und eigentlich auch das Notwendige ist, dass wenn es zwei Staaten gibt, also einen mehrheitlich jüdischen Staat Israel und einen mehrheitlich arabisch-palästinensischen Staat Palästina, die nebeneinander leben, diese beiden Staaten können nicht hermetisch gegeneinander abgeschlossen sein, sondern sie müssen dann miteinander …

von Billerbeck: Also keine Mauer?

Perthes: Keine Mauer, keine Mauer in Jerusalem, sondern offene Grenzen, einfach auch um Handel und Kommunikation und Verkehr möglich zu machen – nicht nur, weil die Westbank und der Gazastreifen ja in irgendeiner Form miteinander verbunden sein müssen, sondern auch, weil 40 Jahre Okkupation und zwangsweises Zusammenleben natürlich dazu geführt haben, dass die palästinensische Wirtschaft ganz deutlich auf die israelische ausgerichtet ist, dass die israelische Wirtschaft aber auch ein großes Interesse daran hat, den Markt der palästinensischen Gebiete zu behalten, und weil es auch denkbar ist, zumindest als Möglichkeit, dass ja einige israelische Siedlungen unter palästinensischer Souveränität aufrechterhalten würden.

Die israelischen Siedler, die sagen wir mal aus rein religiösen Gründen sagen, sie wollen in Gebieten der Westbank, Nablus zum Beispiel, weiterhin leben, oder auch in Ostjerusalem, aber dann akzeptieren, dies unter palästinensischer Hoheit, unter palästinensischen Gesetzen, zu tun, die wird ein zukünftiger Staat Palästina dann auch akzeptieren können und ich denke sogar akzeptieren müssen. Wenn man sagt, die Grenzen sind offen und die beiden Staaten haben ein gutes Verhältnis, das würde gleichzeitig dazu führen, dass es für Israel sehr viel leichter ist, mit dem Rest der arabischen Welt Wirtschafts- und Gesellschaftskontakte zu haben. Bisher ist das ja sehr beschränkt. Man hat Kontakte mit Jordanien, man hat Kontakte mit Ägypten, zu beiden Staaten auch offene Grenzen, aber zu Syrien zum Beispiel, was auch ein Nachbarstaat ist, und zum Libanon ja eben nicht.

von Billerbeck: Wenn man sich so lange mit dem Thema beschäftigt, Herr Perthes, wie ist Ihr Gefühl, kommt es zu einer Einigung?

Perthes: Ich bin ja so etwas wie Zweckoptimist. Ich denke, dass die historische Vernunft sich letztlich durchsetzt, sie braucht nur immer länger, als man sich das wünscht. Insofern würde ich sagen, ja, es kommt zu einer Zweistaatenlösung. Ich bin nicht ganz so optimistisch, wenn Sie gefragt hätten, schafft Obama dies innerhalb des Jahreszeitraums, den er jetzt für die Gespräche vorgegeben hat. Ich denke aber sehr wohl, dass es einem Präsidenten Obama gelingen kann, entweder in dieser oder möglicherweise in einer zweiten Amtszeit eine solche Zweistaatenlösung durchzusetzen. Wenn das nicht der Fall ist, dann bin ich allerdings sehr skeptisch, dass es überhaupt noch eine Zweistaatenlösung geben wird.

von Billerbeck: Volker Perthes war das, von der Stiftung Wissenschaft und Politik, zu den heute beginnenden direkten Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern. Ich danke Ihnen!

Perthes: Ja, ich danke auch!

von Billerbeck: Mehr dazu in der "Ortszeit" um 17 Uhr im Gespräch mit unserem USA-Korrespondenten Klaus Remme.