Juden in Frankreich

"Die antisemitische Gewalt ist banal geworden"

Ein Mann steht im zerstörten jüdischen Friedhof von Sarre-Union in Frankreich.
Ein Mann steht im zerstörten jüdischen Friedhof von Sarre-Union in Frankreich. © afp / Patrick Hertzog
Patrick Desbois im Gespräch mit Philipp Gessler · 29.03.2015
Die jüdischen Franzosen haben Angst: Auf diesen Nenner bringt es Pater Patrick Desbois, der Beauftragte der Bischofskonferenz Frankreichs für die Beziehungen zu den Juden. Die Zahl jüdischer Auswanderer habe sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt.
Philipp Gessler: Haben die französischen Juden seit den Anschlägen mehr Angst?
Patrick Desbois: Nun, die französischen Juden haben zu Beginn sehr an Frankreich geglaubt. Sie haben sich beim Aufbau der Republik beteiligt und kulturell viel investiert in die republikanischen Werte des Landes. Aber heute haben die französischen Juden Angst. Sie haben Angst, weil es mehrmals vorkam, dass französische Juden getötet wurden, fast überall. Es gibt viele antisemitische Akte, die auch angestiegen sind. Sie haben also Angst um ihre Kinder. Sie haben Angst, wenn ihre Kinder zur Schule gehen. Sie haben Angst, wenn sie zur Synagoge gehen. Also, es ist wahr, dass viele Juden in Frankreich darüber nachdenken, Frankreich zu verlassen.
Gessler: Wie viele Juden denken darüber nach, Frankreich zu verlassen?
Desbois: Das weiß man nicht genau. In jedem Fall hat sich die Zahl der Juden, die ausgewandert sind, verdoppelt im Vergleich zum Vorjahr. Aber man weiß es nicht genau, denn es gibt nur Zahlen für die Auswanderung nach Israel, nicht etwa in die USA, nach Lateinamerika oder nach Australien. Sie verlassen das Land, weil sie denken, es gebe keine Zukunft für ihre Kinder in Frankreich.
Gessler: Gibt es genug Solidarität der französischen Gesellschaft mit den französischen Juden?
"Man hat die Sicherheitsmaßnahmen verdoppelt"
Desbois: Nicht bei diesem Thema. Sicherlich, die Juden sind in jeder Hinsicht stark integriert in Frankreich. Sie sind zunächst einmal Franzosen, sie sind Teil der französischen Gesellschaft, es gibt unter ihnen Minister, Abgeordnete, es sind Ärzte. Sie leben nicht abgesondert. Aber ich bin nicht sicher, ob die französische Bevölkerung wirklich besorgt ist. Man weiß, dass die französischen Juden auswandern könnten, aber wenige Leute reagieren darauf. Die Behörden, die Regierung versucht, den Juden Sicherheit zu vermitteln – man hat die Sicherheitsmaßnahmen verdoppelt, aber konkret weiß ich nicht, ob es von seiten der nicht-jüdischen Bevölkerung eine große Solidarität gibt.
Gessler: Gibt es auch von muslimischen Organisationen Zeichen der Solidarität mit Juden – oder sind die derzeit eher ruhig?
Desbois: Es gibt einige Imame, die sich für die Juden engagieren, z.B. der Imam von Drancy, der die Juden sehr unterstützt, aber derzeit muss er Tag und Nacht von der Polizei geschützt werden. Der offizielle Islam spricht sich immer für ein friedliches Zusammenleben mit den Juden und Christen aus. Das Problem ist nicht der offizielle Islam, es sind die kleinen, jungen Leute, die radikal sind, die zum Teil nach Syrien zum Kampf gegangen und nun zurück gekommen sind, die also gelernt haben, zu töten und zu schießen. Nun ist es eine große Sorge der Regierung, sie aufzuhalten oder aufzudecken, bevor sie etwas unternehmen.
Gessler: Der genannte Imam wird geschützt von der Polizei, nicht wahr?
Desbois: Ja, dieser Imam, der sich für die jüdischen Organisationen ausgesprochen hat, der auch schon in Israel war, muss Tag und Nacht von der französischen Polizei geschützt werden, weil er Morddrohungen erhalten hat durch andere Muslime.
Gessler: Wie schätzen Sie den Antisemitismus des "Front National" ein?
"Dieselbe Wurzel wie der klassische Antisemitismus"
Desbois: Es kommt aus derselben Wurzel wie der klassische Antisemitismus in Frankreich. Während der Dreyfus-Affäre gab es Dreyfus-Befürworter und die Dreyfus-Gegner – Frankreich war nie völlig antisemitisch. Heute ist der Unterschied, dass sich der klassische Antisemitismus getraut, so zu sprechen wie der Satiriker Dieudonné. Aber für die französischen Juden kommen die physischen Attacken nicht aus diesem Milieu, sie kommen aus dem radikalen Migrationsmilieu.
Gessler: Macht die französische Regierung genug, um die Juden zu schützen?
Desbois: Ja, die Regierung tut das Maximale. Es schützen jetzt Soldaten viele Synagogen und Schulen – zusätzlich zum Polizeischutz. Die Regierung hat zudem viele Dschihadisten-Zellen hoch genommen. Derzeit tut nach meinem Eindruck die Regierung das Maximum, was sie tun kann, aber sie ist einer harten Konfrontation ausgesetzt, denn diese Leute sind aus Syrien zurück gekehrt – und man weiß nicht, wo sie sich befinden.
Gessler: Macht auch die katholische Kirche in Frankreich genug?
Desbois: Die katholische Kirche, ihre Kardinäle sind den jüdischen Führungsfiguren sehr nahe, man trifft sich häufig. Wir haben auch das Bewusstsein, dass viele unserer Gläubigen auch heute in radikalen muslimischen Ländern verfolgt werden. Viele dieser Christen werden attackiert oder vertrieben, aus dem Irak oder von sonstwo. Also, wir fühlen, dass wir hier in einer schwierigen Situation sind. Aber ich wiederhole: Die Führungsfiguren der katholischen Kirche sind den der jüdischen Gemeinde sehr nahe und freundschaftlich gesonnen.
Gessler: Was kann man tun in Frankreich, um das jüdische Leben dort zu schützen?
Desbois: Es geht zuerst darum, Wissen zu verbreiten und zu sagen, dass das nicht zu dulden ist. Man muss sich auch erinnern, was während des Zweiten Weltkriegs passiert ist: dass man damit angefangen hat, einfach einen Juden hier und einen Juden dort zu töten. Man muss sagen, dass Antisemitismus sehr gefährlich und nicht banal ist, dass der Antisemitismus eine sehr schwere Krankheit ist, in der Tat eine Krankheit des Gewissens.
Gessler: Gibt es eine gewisse Banalisierung des Antisemitismus in Frankreich?
Desbois: Ja, eine sehr große Banalisierung. Am Anfang hat man damit begonnen, jüdische Friedhöfe zu verwüsten. Die Regierung nahm ein Flugzeug und flog zu einem geschändeten jüdischen Friedhof, daran erinnere ich mich, das war im Elsass. Heute würde die Regierung nicht mehr das Flugzeug nehmen, um zu einem geschändeten Friedhof zu reisen, weil man heute in bestimmten Vierteln Juden tötet. Wir befinden uns also in einer anderen Phase. Ja, die antisemitische Gewalt ist banal geworden.
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