Journalist: Mit rechter Gewalt hatte in Solingen niemand gerechnet

Moderation: Katrin Heise · 29.05.2013
Nach dem rechtsextrem motivierten Brandanschlag in Solingen vor 20 Jahren war der Journalist Alaverdi Turhan für die Tageszeitung "Hürriyet" vor Ort. Niemand habe eine solche Tat erwartet, erinnert er sich: Solingen galt als Stadt, in der Migranten und Deutsche gut zusammenlebten.
Katrin Heise: Gerade drei Tage war es im Mai 1993 her, dass der Bundestag den umstrittenen Asylkompromiss verabschiedet hatte. Der stand für die Stimmung, die in Teilen der Gesellschaft in Deutschland herrschte, Aggression vor zu viel Fremdem im Land. Anschläge, Übergriffe häuften sich, die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen lagen auch erst ein halbes Jahr zurück. Der rechtsextrem motivierte Brandanschlag in Solingen traf mit der Familie Genç eine Familie, die seit 20 Jahren in Deutschland lebte. Alaverdi Turhan war damals Journalist bei der türkischen Tageszeitung "Hürriyet", ich grüße Sie, Herr Turhan!

Alaverdi Turhan: Schönen guten Tag, hallo!

Heise: Welche Erinnerungen haben Sie, Herr Turhan, an den Morgen des 29. Mai 1993?

Turhan: Ich habe damals den Anruf meiner Zentralredaktion in Frankfurt bekommen, dass so ein Brandanschlag in Solingen stattgefunden hat mit Toten. Wie viele, war zu dem Zeitpunkt jedoch noch nicht bekannt. Und ich sollte mich aufmachen nach Solingen. Und was sich dann für ein Bild vor einem dargelegt hat, war schon erschreckend, weil das Haus noch im Qualm war. Also, das war noch so gewesen, dass die Polizei die Absperrungen noch hat … Es war noch ein Kuddelmuddel, ein richtiges Durcheinander noch. Und um das Haus waren viele Journalisten, schon ein Teil der Journalisten auch schon vor Ort, aber sehr viele Polizisten dann halt und die dann auch noch um und am Haus waren.

Heise: In Solingen lebten und leben, wie in vielen Industriestädten, viele Menschen mit ausländischen Wurzeln. Sie selber haben in Duisburg gelebt. Wie war eigentlich die Stimmung davor, vor diesem Brandanschlag in der Stadt Solingen oder überhaupt in dem Raum? War da Ablehnung, Abgrenzung, Ausgrenzung von Migranten in Solingen zu spüren?

Turhan: Nein, eher nicht. Also, Solingen galt für uns als Journalisten eigentlich nie als ein Standort, wo Rechtsradikale sich tummeln könnten oder sich aufhalten würden oder dass da bestimmte Dinge passieren. Auch deshalb nicht, weil da eigentlich die Migranten relativ gut auch mit der deutschen Bevölkerung zusammengelebt haben. Also, da hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich keinerlei Informationen, auch nicht von der Bevölkerung, dass irgendwie eine andere, ausländerfeindliche Stimmung geherrscht haben könnte.

Heise: War denn deswegen der Schock auf türkischstämmiger Seite besonders groß oder war das dann das Gefühl, das ist jetzt ein Einzelfall, oder im Gegenteil, hatte man das Gefühl, oh, das ist jetzt hier ein Auftakt? Also, war da Angst vor weiteren Übergriffen?

Turhan: Wie Sie schon anfangs erwähnt hatten, war ja Hoyerswerda, Lichtenhagen, Rostock und auch Mölln also vorher. Und da war schon der Gedanke, was ist eigentlich da los. Und aufgrund der Debatte auch, die politisch geführt worden ist, war natürlich schon eine gewisse Stimmung da. Aber mit so etwas hat dann eigentlich, glaube ich, kaum jemand rechnen können oder hat jemand gerechnet können.

Heise: War dann danach Angst da? Man liest jetzt so von Familien, die dann quasi auch ihre Häuser, ihre Wohnungen bewacht haben!

Turhan: Ja, also, das mit Sicherheit. Also, ab Solingen, ab dem Vorfall war dann, glaube ich, deutschlandweit eine gereizte Stimmung gewesen, aber auch eine solidarische Stimmung. Also, zum einen Teil war natürlich die Empörung groß wegen den Ereignissen halt, aber zum anderen war eben die Solidarität, die in ganz Deutschland dann widerfahren ist auch den Menschen in Solingen, das war beachtenswert.

Also, in ganz Deutschland gab es Lichterketten, Demonstrationen, an dem Samstag gab es in den Stadien, in fast allen Stadien, in denen gespielt worden sind, Schweigeminuten, wo an den Solingen-Opfern gedacht worden ist. In Solingen selber war die Stimmung sehr angeheizt aufgrund dessen, dass immer wieder auch Demonstrationen in Gewalt ausuferten. Unter anderem auch gab es die Nacht der klirrenden Scheiben, wo Demonstranten sich provozieren ließen von einigen Extremen, Extremisten und dann halt Autoscheiben dann, Geschäftsscheiben demoliert hatten. Also, das war …

Heise: Es waren eben auch sehr viele Türken aus ganz Deutschland aus Solidarität angereist und dann kam es eben zu diesen emotionalen Demonstrationen. Haben sich da eigentlich auch Deutsche angeschlossen? Also, wie haben Sie das noch in Erinnerung? Sie sprachen ja von Solidarität, hat sich die deutsche Bevölkerung, hat die damals auch ihrer Empörung, ihrem Entsetzen dann da eben Ausdruck verliehen?

Turhan: Das mit Sicherheit. Also, es hingen auch bei Wohnungen, von denen man eigentlich ausging, dass keine Türken darin wohnen würden, auch türkische Fahnen, und wie Sie schon sagten, wenn Leute von außerhalb kamen, wurden die noch von den umliegenden Häusern bewirtet, also, man hat ihnen Wasser gebracht, was zu Essen gebracht. Also, die Solidarität in der Stadt war eigentlich zu spüren.

Nach dieser Gewaltaktion in der Nacht mit diesen Übergriffen auf Autos und Geschäfte war ein bisschen die ängstliche Stimmung auch bei den Deutschen da, sodass viele deutsche Familien auch aus Solingen erst mal zu Bekannten und Freunden außerhalb von Solingen gereist sind. Und die türkischen Familien haben sich in der Zeit dann ein bisschen zur Sicherheit halt Feuerlöscher besorgt, Stricke besorgt, die sie an Heizkörpern festgemacht haben für den Notfall, damit sie sich heraushängen konnten.

Also, das war schon … Die eine Woche nach dem Vorfall, in dieser Woche, bis eben zur Überführung der Toten in die Türkei war die Stimmung wirklich sehr, sehr angeheizt und zum Explodieren nahe. Also, es hätte wirklich manchmal ein Funke genügt, bis es dann wieder ausgeufert wäre.

Heise: Mit Alaverdi Turhan, der als Journalist die Ereignisse in Solingen vor 20 Jahren verfolgte und über den Brandanschlag und die Folgen ein Buch schrieb, spreche ich im Deutschlandradio Kultur. Herr Turhan, wir haben eben sehr viel von Ihnen gehört über die Stimmung, die damals herrschte in Solingen und überhaupt. Für diese Stimmung, die ja sehr angeheizt war, oder gegen diese Stimmung arbeitete ja gerade die Familie Genç, auch die Mutter Mevlüde Genç hat ja unendlich eindringlich appelliert, an das Zusammenleben zwischen Türken und Deutschen zu glauben. Sie haben sie ja auch kennengelernt. Woher kam da eigentlich die Kraft?

Turhan: Das hat uns auch wirklich überrascht und auch hohen Respekt abverlangt. Diese Frau hat wirklich zwei Kinder verloren, zwei Enkel verloren und eine Nichte verloren und trotz alledem nahm sie sich die Kraft, immer aufzustehen, für ihre Familie da zu sein. Sie wurde mal von dem Richter angesprochen und gefragt, was sie beruflich mache, da hat sie gesagt: Ich pflege meinen verbrannten Sohn Bekir. Und selbst da war nichts von Hass, nichts von irgendwie, dass man einfach Wut zu spüren bekommen hat. Im Gegenteil, sie hat es immer wieder aufgefangen.

Sie hat natürlich das Innere, was sie hat, ihre Empfindungen nach außen getragen, aber immer wieder abgewogen, am Ende abgefedert und dann gesagt, trotz alledem, ich liebe Deutschland, ich stehe zu Deutschland, ich sehe die Zukunft meiner Familie in Deutschland. Sie war auch die Stütze der ganzen Familie, sie war auch der Mittelpunkt. Da kam der Vater, der Sohn, eigentlich, der ältere Sohn und so weiter, die blieben eigentlich alle im Schatten der Mutter.

Heise: Die Täter, das waren vier Jungen zwischen 16 und damals Anfang 20, die waren schnell gefasst. Wie stand es eigentlich da tatsächlich um das Vertrauen in Polizei, in deutsche Justiz und den Prozess?

Turhan: Also, als die Täter gefangen worden sind, waren natürlich alle erleichtert: Ganz Solingen war erleichtert, wir waren erleichtert, ganz Deutschland war erleichtert. Das hat uns erst mal gefreut, dass die Polizei relativ schnell an die Täter drangekommen ist. Was uns dann ein bisschen gewundert hat, war eben, dass man nicht mehr weiter geforscht hat, weil viele davon ausgingen, die sind so jung, also, die müssen geleitet worden sein, vielleicht sind die nur vorgeschoben. Also, da waren so viele Fragen, die noch offen waren, von denen man ausgegangen ist, dass die Polizei da vielleicht hätte noch intensiver Vorarbeit oder Recherchearbeit leisten müssen, was sich dann ja auch während des Prozessverlaufs ein bisschen bewahrheitet hat. Also, da sind ja mehr Sachen herausgetreten, wo eben Fehler der Polizei zu dem Zeitpunkt auch bekannt geworden sind.

Heise: Sie haben vorhin erwähnt, dass Frau Genç sehr viel, natürlich sehr viel hat ertragen müssen, auch in diesem Prozess sehr viel hat ertragen müssen. Hatte man eigentlich jemals das Gefühl, dass die Familie wirklich spüren konnte, dass die Täter ihre Tat bereut haben?

Turhan: Da können wir mit Sicherheit von ausgehen, nein. Dieses Gefühl hatten sie nie bekommen, auch bei dem Geständnis von dem ältesten der Angeklagten, dessen Brief auch vorgelesen worden war, den er in der Justizanstalt an die Familie gerichtet hat, dass er es auch bereut und dass er sich aufrichtig entschuldigen würde, das hat er versucht, auch in dem Verfahren irgendwie noch mal rüberzubringen. Die anderen drei gar nicht. Also, sie haben manchmal nicht mal Blicke oder abwertende Blicke gegenüber den Opfern gehabt. Also, das Gefühl, dass bei den Angeklagten irgendwie Reue zu spüren war, das war es nicht.

Auch das, was der Ältere von sich gegeben hat, was er auch im Nachhinein, im Laufe des Prozesses ja auch revidiert hat, in der 80. Verhandlungswoche hat er es dann wieder zurückgenommen, sein Geständnis. Also, deshalb konnte man von keinem der Angeklagten irgendwie denken, dass da wirklich ernsthaft Reue im Spiel war. Im Gegenteil, also, eher dass die versucht haben, ihren Kopf so gut wie möglich aus der Schlinge zu bekommen.

Heise: In den letzten 20 Jahren hat sich ja sehr viel getan. Politisch kommt niemand an Integrations- und Migrationsthemen vorbei. Auch Solingen hat beispielsweise, oder steht beispielhaft für ein gelebtes interkulturelles Konzept. Aber jetzt gerade in letzter Zeit, seit einem Jahr, mit der Aufdeckung der NSU-Mordserie, sind da wieder Wunden aufgebrochen? Wie sehen Sie die aktuelle Situation?

Turhan: Ja, natürlich, die Wunden sind wieder aufgebrochen in der Hinsicht, dass man damals auch schon irgendwie im Verfahren selber gemerkt hat, dass da vieles im Argen gelegen hat, was den Verfassungsschutz betrifft und auch was die Polizeiarbeit betrifft. Denn auch in Solingen wurden Fehler gemacht, bei der Spurensicherung und im Anschluss auch daran mit dem V-Mann, der auch für den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz gearbeitet hat.

Und wie verlässlich sind solche V-Männer? Also, die Frage hat sich natürlich dann auch wieder im Vorfeld des NSU-Prozesses dann gestellt, wo immer wieder Sachen aufgetaucht sind, wo man sich wirklich an den Kopf gefasst hat, dass die Behörden da wirklich nicht richtig Hand in Hand zusammengearbeitet haben, sondern aneinander vorbei. Und das hat schon, glaube ich, in vielen Ländern, auch unter anderem in der Türkei für Erschütterung gesorgt. Dann kommen solche Erinnerungen natürlich an Solingen und so wieder auf.

Heise: Alaverdi Turhan zum 20. Jahrestag des Brandanschlages in Solingen. Er hat damals Geschehen und Prozess verfolgt. Sein Buch, zusammen mit Metin Gür, heißt "Die Solingen-Akte" und ist bei Patmos erschienen. Herr Turhan, vielen Dank!

Turhan: Danke auch, Frau Heise!


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