Jouanna Hassoun

"Muslime und Christen begründen Homophobie mit ihrer Religion"

Jouanna Hassoun im Gespräch mit Andre Zantow · 23.04.2016
"Homophobie wird von Muslimen oft mit ihrer Religion begründet", sagt Jouanna Hassoun. Das sei ähnlich wie bei fundamentalen Christen. Die Leiterin des Zentrums für Migranten, Lesben und Schwule in Berlin hilft Geflüchteten, die wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und geschlagen werden.
Deutschlandradio Kultur: Zu Gast ist in dieser Woche eine Frau, die neben Schauspielerin Iris Berben und Regisseur Wim Wenders im vergangenen Jahr eine besondere Auszeichnung erhalten hat, den Verdienstorden des Landes Berlin - für ihr jahrelanges ehrenamtliches Engagement in der Integrations- und Flüchtlingsarbeit: Jouanna Hassoun.
Jouanna Hassoun: Vielen Dank für die Einladung.
Deutschlandradio Kultur: Frau Hassoun, Sie sind erst Anfang 30 und haben doch schon so viel erlebt und geleistet. Aktuell leiten Sie die Berliner Einrichtung "MILES", die sich speziell um Flüchtlinge kümmert, die schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell sind. Warum braucht es so ein spezielles Zentrum?
Jouanna Hassoun: Weil wir kulturspezifisch arbeiten und uns mit den Sorgen der Menschen direkt befassen. Ich habe den Vorteil, dass ich arabischsprachig bin und auch zwei meiner Mitarbeiter Arabisch sprechen können. Deshalb kommen sie auch zu uns, weil wir sie verstehen. Es gibt zwar viele, die auch englisch sprechen, aber die Muttersprache ist nochmal, wenn man gerade in ein neues Land ankommt, entscheidend.
In den letzten Monaten war eine große Herausforderung für uns, sie in sichere Unterkünfte unterzubringen, wenn sie zum Beispiel Gewalt ausgesetzt worden sind oder Gewalt ausgesetzt waren.
Deutschlandradio Kultur: Was erzählen die Leute, die zu Ihnen kommen, über Gewalt in einigen Flüchtlingsunterkünften gegenüber Homosexuellen?
Jouanna Hassoun: Das ist total unterschiedlich. Das kann von verbaler Attacke bis zur physischen Attacke reichen. Es gibt Klienten und Klientinnen, denen gesagt wurde, sie sind ein Stück Dreck wert und müssen deshalb auf dem Boden schlafen. Oder denen wurden Sachen gestohlen oder sie waren sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Insbesondere für transidente Menschen ist das sehr gefährlich, weil sie entweder massiv attackiert werden, also physisch attackiert werden, zusammengeschlagen werden, oder auch leider ihnen öfter sexuelle Angebote gemacht werden oder wo Männer versuchen sie zu vergewaltigen.
In Griechenland lebende Muslime feiern den Geburtstag des Propheten Mohammed.
In Griechenland lebende Muslime feiern den Geburtstag des Propheten Mohammed.© Picture Alliance / dpa / epa / ALKIS KONSTANTINIDIS
Deutschlandradio Kultur: Wer macht das? Lässt sich das irgendwie kategorisieren nach Nationalitäten, nach Religionszugehörigkeiten?
Jouanna Hassoun: Es kann sich überhaupt nicht kategorisieren lassen. In den Flüchtlingsunterkünften brauchen wir natürlich jetzt nicht über die Nationalitäten zu sprechen, da sind Menschen aus Afghanistan, aus Syrien, aus dem Irak, aus verschiedenen Ländern. Da sind aber auch syrische Christen dabei. Ich will das auch gar nicht an einer Nationalität festmachen. Täter sind Täter, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit oder von der kulturellen Zugehörigkeit. Und unabhängig auch von den Unterkünften werden sie auch auf der Straße, wenn ich jetzt von Berlin spreche, von der Berliner Mehrheitsgesellschaft, besonders bei transidenten Menschen fällt es leider auf, angegriffen.
Deutschlandradio Kultur: Der deutsche Pass schützt nicht vor Homophobie. Das haben Sie gerade schon erzählt. Das zeigt auch ein Beispiel aus Baden-Württemberg, das sicherlich noch einige im Kopf haben. Dort hat sich 2014 die grün-rote Landesregierung für Schulunterricht eingesetzt, der verschiedene Lebensmodelle akzeptiert, also nicht nur die Ehe zwischen Mann und Frau. Das wollten dann Tausende Baden-Württemberger nicht und sammelten 190.000 Unterschriften. Die Befürworter dieser neuen Politik waren dann letztlich doch weitaus mehr und in der Überzahl. Aber es gab eben viele, die ihre Ablehnung kundgetan haben gegenüber Schwulen, gegenüber Lesben und das auch begründet haben mit ihrem katholischen Glauben.

Eine Sünde ist eine Sünde und wird nicht toleriert

Wie ist es jetzt unter Muslimen? Was sind da die Ursachen für Homophobie?
Jouanna Hassoun: Unter Muslimen ist die Ursache tatsächlich auch so. Auch sie versuchen es mit der Religion zu begründen, genauso wie bei den Katholisch-Fundamentalen. Das ist eine Sünde und eine Sünde wird nicht toleriert. Dementsprechend wird es entweder tabuisiert oder wird mit Gewalt geahndet. Das ist das hauptsächliche Phänomen, was uns begegnet.
Aber unabhängig von der Religion: Es gibt auch viele vermeintlich muslimische Menschen, die zwar mit der Religion argumentieren oder mit dem Islam argumentieren, was aber nichts damit zu tun hat, sondern hier spricht die Homophobie beziehungsweise einfach die Angst aus ihnen, weil sie sich damit nicht auseinandersetzen können oder wollen. Meist sagen zum Beispiel auch muslimische Eltern, mit denen ich arbeite: Ich habe nichts dagegen, wenn es Deutsche sind, die schwul oder lesbisch sind. Hauptsache, es betrifft nicht mein Kind. – Das ist halt dieses Nichtwissen, woher das kommt beziehungsweise wie die Gesamtgesellschaft das auch annehmen würde.
Deutschlandradio Kultur: Aber steht das irgendwo in einer islamischen Schrift? Oder werden da lediglich Vorurteile weitergetragen?
Jouanna Hassoun: Das ist schwierig zu beantworten. Das, worauf sich Homophobie im Islam, worauf sich die Menschen beziehen, ist hauptsächlich der Part mit Lot, also mit Sodom und Gomorra. Darauf beziehen sich ja auch die Christen und auch die Juden. Das ist der einzige Part, wo man das ableiten könnte. Ich sage nur könnte. Das bedeutet nicht, dass man es ableiten kann, dass man das begründen kann. Aber wenn man den Gesamtkontext liest, auch in dieser Strophe, da geht es nicht um die Homosexualität an sich, sondern es geht um Vergewaltigung, die dort stattgefunden hat. Und dass Vergewaltigung geahndet werden soll, beziehungsweise nicht religiös konform ist, darüber brauchen wir, glaube ich, nicht zu streiten.
Blick in die derzeit älteste Moschee von Bukarest, die 1960 gebaut wurde. Vor der Wende war sie Anlaufpunkt für die traditionelle türkisch-tatarische Minderheit im Land, seither wird sie aber auch von vielen Muslimen aus der Türkei und dem Nahen Osten frequentiert. Sie kann bis zu 300 Gläubige fassen.
Gläubige in Gebetsraum© Deutschlandradi / Annett Müller
Deutschlandradio Kultur: Und so etwas findet ja auch, haben Sie gesagt, in Flüchtlingsunterkünften statt. Wird genug mit den Menschen dort gesprochen, auch über Homophobie, dass eben den Menschen das auch bewusst gemacht wird dort, dass so etwas nicht hier gewünscht ist?
Jouanna Hassoun: Wenn etwas vorfällt, dann wird darüber gesprochen. Wir haben mit vereinzelten Notunterkünften gute Erfahrungen gemacht, zum Beispiel mit der AWO oder den Maltesern, die mit uns kooperieren, wo wir auch "Unsere-Liebe-verdient-Respekt-Kampagne", also unsere Plakate dort angehängt haben, damit wir auch die betroffenen Menschen erreichen können. Dann wird auch darüber gesprochen. Dann wird auch über das Thema Homophobie gesprochen. Dann wird ihnen auch erklärt: Menschen, die nicht heterosexuell leben, haben hier Rechte. Also, homosexuelle Menschen haben hier Rechte. Und wenn du diese Personen angreifst, dann kann das auch negative Auswirkungen auf dein Asylverfahren haben.
Da finde ich es auch richtig, dass man auch rechtlich argumentiert, nicht nur auf einer emotionalen oder auch auf einer sozialen Ebene, sondern auch rechtlich, um zu sagen: Wir haben hier eine Grundlage. Ich will jetzt auch gar nicht über Werte und Normen sprechen, weil, das haben Sie auch vorhin so schön angesprochen. In Baden-Württemberg waren das – sage ich mal – Bio-Deutsche, die sich gewehrt haben und diese homophoben Äußerungen von sich gegeben haben. Deshalb finde ich es schwierig, dann über Werte und Normen zu sprechen.

Psychosoziale Beratung und Deutschkurse

Deutschlandradio Kultur: Dann bleiben wir beim Konkreten, was Sie auch hier tun mit Ihrem Zentrum für Migranten, Lesben und Schwule in Berlin, kurz MILES. – Was tun Sie konkret, um den Menschen hier zu helfen?
Jouanna Hassoun: Wir bieten ihnen eine psychosoziale Beratung an. Wir kümmern uns darum, dass sie eine sichere Unterkunft haben. Seit kurzem gibt es ja auch die Unterkünfte der LSBTI-Geflüchteten. Da vermitteln wir sie hin. Vorher haben wir sie in private Unterkünfte vermittelt. Wenn zum Beispiel Klienten kein Geld haben, um eine Fahrkarte zu kaufen oder nichts zu Essen haben, dann haben wir ihnen auch Lebensmittelgutscheine gegeben oder Fahrkarten.
Was wir auch machen, um auch die Integration zu befördern, ist ein Deutschkurs, den wir auch anbieten seit letztem Sommer, also seit August letzten Sommer – haben wir alles über Spenden finanziert. Und für diejenigen, die quasi einen Leistungsanspruch haben, wird es es jetzt auch einen Kurs an der VHS-Schule geben. Aber weiterhin brauchen wir natürlich Unterstützungsangebote auch von Ehrenamtlichen beziehungsweise für Menschen, die quasi keinen Leistungsanspruch haben, dass sie dann befördert werden und dass sie auch erfolgreich integriert werden.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind selbst vor Krieg aus dem Libanon geflüchtet. Mit Ihrer Familie, die eigentlich aus Palästina stammt, kamen Sie 1989 nach Deutschland. Sie waren damals sechs Jahre alt. Wenn Sie jetzt auf die Menschen gucken, die aktuell vor Krieg im Nahen Osten flüchten, was hat sich für die im Vergleich mit Ihnen verändert?
Jouanna Hassoun: Die Öffentlichkeit hat sich verändert beziehungsweise die Sichtbarkeit. Das Thema Geflüchtete wird nicht mehr im stillen Kämmerlein behandelt, sondern es wird öffentlich darüber gesprochen. Als wir damals nach Deutschland gekommen sind, haben wir auch unter den Rechtsradikalen gelitten, besonders auch nachdem die Mauer gefallen ist. Die Asylunterkünfte haben gebrannt. Unsere Unterkunft war auch mehrmals davon betroffen. Uns ist nichts passiert, aber meine Mutter musste zum Beispiel darunter leiden, weil sie dann von der Arbeit kam und diesen langen Weg bis fast vor dem Wald nicht alleine laufen konnte. Dann hat sie Unterstützung gekriegt von den Nachbarn aus der Asylunterkunft, die sie dann diesen Weg begleitet haben, damit ihr nichts passiert.
Auch damals gab es Menschen, die sich engagiert haben im Flüchtlingsbereich. Davon haben auch wir als Kinder profitiert. Und dafür bin ich auch sehr, sehr dankbar. Ich sehe auch dieses Engagement heute auch als etwas unglaublich Positives, dass die Menschen sagen: Wir sind ein weltoffenes Land und wir möchten auch, dass diese Menschen gut sich auch hier einleben und auch integrieren.
Das, was ich jetzt sehe, was ich als positives Beispiel sehe, ist zum Beispiel, dass die Asylanträge schneller bearbeitet werden. Meine Familie hat 13 Jahre lang darauf gewartet in dem Asylstatus, in dem ungeklärten Asylstatus, bis wir eine Aufenthaltserlaubnis hatten. Wir haben 13 Jahre lang mit einer Aufenthaltsgestattung, teilweise mit einer Duldung gelebt. Da können Sie sich wahrscheinlich vorstellen, als Schülerin und auch meine Geschwister als Schüler, die dann aufgrund des Aufenthaltsstatus keine Perspektive hatten. Gut, keiner von uns ist kriminell geworden. Wir haben alle unsere Schule abgeschlossen und unser Leben gemeistert. Aber andere Familien, die vielleicht keine Perspektive hatten, die sind leider teilweise andere Wege gegangen.
Zwei schwule Männer halten sich auf dem Straßenfest zum Christopher Street Day in Thüringen an den Händen.
Zwei schwule Männer halten sich auf dem Straßenfest zum Christopher Street Day in Thüringen an den Händen. © picture alliance / dpa / Michael Reichel
Deutschlandradio Kultur: Da hat sich jetzt viel verbessert, auch wenn sicherlich noch viel zu tun ist, speziell bei der Bearbeitung der Asylanträge und bei der Dauer.
Sie haben gesagt, das Thema ist jetzt sichtbarer. Es gibt auch eine große Hilfsbereitschaft. Trotzdem gibt es natürlich auch noch 1.000 Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte im vergangenen Jahr, zumeist in Dörfern und Kleinstädten. Hat sich zumindest dort die Einstellung gegenüber Zugezogenen nicht verändert?
Jouanna Hassoun: Da hat sie sich definitiv nicht verändert. Aber auch in Berlin hat sie sich nicht verändert. Wenn wir – sage ich mal – in den tiefsten Osten gehen, da gibt es ja immer noch Nachbarn, die rausgehen und sagen, wir wollen keine Asylanten hier haben. Diese Leute verfassen irgendwelche komischen Videos und Postings, die erstunken und erlogen sind, oder Gerüchte über Flüchtlinge verbreiten, was die angeblich tun, irgendwelche Mädchen vergewaltigen.
Wir haben ein großes Problem mit dem Rechtsradikalismus. Das ist heute da. Das war aber auch vor 20 Jahren da und es war vor 25 Jahren da. Aber trotzdem, das Engagement der Mehrheitsgesellschaft ist trotzdem da. Also, ich kann das für mich persönlich, auch wenn ich natürlich Angst habe vor Rassismus, auch vor Rechtsextremismus, trotzdem nicht sehen, dass s nur diese eine Seite gibt, weil ich auch die andere Seite kennengelernt habe.
Gefährlicher wird es mit den sogenannten "besorgten Bürgern". Da muss man ganz, ganz vorsichtig sein, ab wann das Kritik ist, ab wann das Ängste sind. Und wann sind diese Ängste berechtigt? Ab wann kann man Aufklärungsarbeit betreiben? Und wann hört es aber auch auf?
Ich bin nicht bereit, in den Dialog mit jemandem zu treten, der irgendwelche Gerüchte in die Welt setzt über Geflüchtete oder über Ausländer. Aber ich bin bereit, mit Menschen, die Sorgen und Ängste haben, zu sprechen, solange es nicht in eine radikale Seite geht.
Deutschlandradio Kultur: Befürchtungen von einigen Menschen sind, wenn man den Demonstranten in Dresden lauscht, dass sie keine Verhältnisse wie in Großstädten haben möchten, wo es eben ganz selbstverständlich ist, dass auf der Straße Spanisch, Arabisch, Englisch, Türkisch zu hören ist. Ist das für Sie ein Zeichen von Parallelgesellschaften und fehlender Integration?
Jouanna Hassoun: Nein. Das sehe ich nicht so. Ich sehe das als Bereicherung, wenn wir mehrere Sprachen in Berlin, aber auch in anderen Großstädten haben.
Natürlich ist die deutsche Sprache das A und O, um sich zu integrieren und auch an der Gesellschaft eine Teilhabe zu gewährleisten. Aber die Frage ist: Ab wann wird es denn als störend empfunden? Wird Englisch als störend empfunden? Wird Spanisch als störend empfunden? Oder ist es tatsächlich nur Türkisch und Arabisch? Da muss man halt schauen, welche Gewichtung hat man denn da? Ich kann nur sagen: Wenn wir alle gemeinsam daran arbeiten, die Integration hier zu befördern Hand in Hand, dann sehe ich das als ein sehr positives Beispiel für unser Land.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja seit Jahren in der Integrationsarbeit tätig. Wie gelingt es denn, dass man nicht nur nebeneinander lebt vor allen Dingen in den Großstädten, wo es ja viel einfacher ist, anonym und nur in der eigenen Community klarzukommen? Wie gelingt das Miteinander und nicht nur Nebeneinander?
Jouanna Hassoun: Das ist hauptsächlich in den Schulen, in den Beratungseinrichtungen, in Nachbarschaftszentren, dass man Familienfeste macht, dass man interkulturelle Abende macht, dass man Kochabende macht und miteinander einfach ins Gespräch kommt – nicht über die und über die anderen, sondern einfach miteinander und so ein Kennenlernen auf niedrigschwelliger Basis. Wie gesagt, Bildung ist der Schlüssel zu allem. Da muss man auf jeden Fall dran setzen, dass man bei Elternabenden und auch bei Elternkursen oder in den VHS-Kursen ein Miteinander schafft.
Deutschlandradio Kultur: Aber noch immer ist es ja so, wenn Sie die Bildung ansprechen, dass bei einigen Zugezogenen eben das Beherrschen der deutschen Sprache nur ganz vereinzelt möglich ist. Woran liegt das? War es bisher nicht nötig, dass einige richtig Deutsch lernen mussten? Fehlt es an Möglichkeiten, solche Kurse zu besuchen? So sehen Sie da die Versäumnisse?
Jouanna Hassoun: Also, wir hatten große Versäumnisse auch durch die Politik. Wenn man an die letzten 50, 30, 20 Jahre denkt, da gab es dieses ganze Thema nicht so: Du kriegst jetzt einen Integrationskurs bewilligt, sondern die Leute waren auf sich selbst gestellt. Wenn man zum Beispiel von der Gastarbeitergeneration spricht, die sind hierher gekommen, haben hier gearbeitet, hatten gar keine Möglichkeit, einen Deutschkurs zu besuchen. Und wenn, wäre der ziemlich teuer gewesen. Und wie soll man das denn schaffen, wenn man von Montag bis Samstag oder von Montag bis Freitag von morgens bis abends arbeitet?
Das bedeutet, diese Angebote deutsch zu erlernen oder auch dass ein großer Wert auf die Bildung gelegt wird, seit wann haben wir denn diese Debatte? Seit 15 Jahren? Vorher gab es das nicht oder gab es nur in vereinzelten Debatten, aber nicht als große gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
In den letzten 15 Jahren hat man dann versucht, da bestimmte Dinge aufzuholen, aber ich finde, wenn ich mich jetzt mit Menschen meines Alters unterhalte, da gibt es keine Sprachdefizite. Natürlich, es ist sehr, sehr einfach, dass die negativen Beispiele genannt werden.
Aber wenn wir jetzt von Muslimen sprechen, wir haben ungefähr 5 bis 5,5 Millionen Muslime, die in Deutschland leben. Wie viele davon sind denn auffällig? Ich glaube, das können Sie sich prozentual ausmalen, wie viele auffällig sind. Und diejenigen, die nicht auffällig sind, ich würde sagen, die gehören eher zu den Leuten, die hier erfolgreich ihr Leben meistern.
Deutschlandradio Kultur: Gleichzeitig liest man ja öfter mal über Integrationsprobleme und auch Kriminalität in Bezug auf Muslime. Sie haben die Zahl genannt. Es sind gar nicht so viele. Wenn man jetzt zum Beispiel aber guckt auf Polen, die sind in Deutschland mit etwa 700.000 Menschen vertreten, die zweitgrößte Gruppe der Ausländer, die Polen. Aber über die liest man eigentlich jetzt kaum noch irgendwas. Wie erklären Sie sich das?
Jouanna Hassoun: Ich glaube, dass die polnischstämmigen Menschen es geschafft haben, sich unsichtbarer zu machen. Das kann ich so nicht sagen. Ich habe auch polnische Freunde. Die fallen nicht auf. Die machen ihr Leben. Aber je mehr Leute es gibt, die hier bei uns leben, und es gibt natürlich auch die schwarzen Schafe auch bei den Menschen aus den arabischen Ländern und aus der Türkei, desto mehr wird das natürlich auch in den Medien hochgezogen. Das bedeutet nicht, dass es die schwarzen Schafe nicht gibt. Aber die gibt es auch in Bayern. Die gibt es auch in Sachsen-Anhalt, wenn wir uns jetzt zum Beispiel die rechten Straftaten angucken.
Man spricht ja oft darüber, dass mehr Ängste da sind vor islamistischen Angriffen. Ich habe auch die Angst davor, aber das, was ich faktisch spüre oder mitbekomme, ist eher das aus den rechtsradikalen Milieus. Warum spricht man nicht da drüber? Über Minderheiten sich zu beklagen, das ist immer sehr einfach.
Deutschlandradio Kultur: Aber es ist natürlich ein wichtiges Diskussionsthema. Deswegen will ich das hier nochmal aufgreifen. Derzeit gibt es wieder eine Diskussion über den Islam und immer mit dem Verweis: Unter den Muslimen gibt es eben einige Verfassungsfeinde und auch Terroristen. Das stimmt. Das sagen alle Parteien im Bundestag. Sie haben auch gesagt, dass Sie Angst haben vor so was.
Die Frage ist jetzt, wie man sich dem Problem nähert und wie man es auch versucht zu lösen. – Wie gehen Sie das Thema an im Dialog bei Ihrer Arbeit?
Jouanna Hassoun: Also, ich habe keine Terroristen als Freunde. Ich nenne das jetzt mal ganz lapidar so. Ich habe auch keine Rechtsradikalen in meinem Bekanntenkreis und auch keine Extremisten.
Wenn ich Extremismus mitbekomme aus den muslimischen Milieus, ich habe ja auch jahrelang Workshops gegeben zum Thema Islam und Demokratie, dann schaffe ich das nur, indem ich aufkläre. Dafür gibt es Workshops, wo man darüber sprechen kann: Was sind denn die religiösen Werte? Was ist denn wichtig im Islam? Was bedeutet zum Beispiel das Thema Dschihad? Ist Dschihad wirklich, sich für sein Land aufzuopfern? Oder bedeutet es, dass man im Einklang mit sich selbst ist?
Wenn man mit den Jugendlichen spricht, auch in einer Sprache, die sie verstehen, dann kann man auch mit ihnen in Kontakt treten. Wen man aber nur auf die muslimischen jungen Männer oder Frauen mit Kopftuch schaut und sagt, ihr seid minderwertig, dann werden sie sich auch isolieren und abkapseln und sagen, ich werde nicht angenommen.
Ich habe vielleicht den Vorteil, dass ich kein Kopftuch trage, und werde deshalb nicht diskriminiert. Aber ich kenne auch andere, die nicht wegen ihrem Kopftuch diskriminiert werden. Wenn jemand von Diskriminierung hauptsächlich betroffen ist, dann sind das junge Männer. Warum? Weil sie ein bisschen angsteinflößend sind, wenn sie vielleicht ein bisschen lauter sprechen etc. Aber auch, wenn man sich Berlin anguckt, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund Abitur machen, wie viele an den Unis sind, da hat sich auch sehr, sehr viel verändert seit den letzten Jahren.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, wenn Sie diese Demokratiekurse machen und wenn Sie auch irgendwo mitkriegen, dass es vielleicht Tendenzen einer Radikalisierung geben könnte, dann versuchen Sie darauf einzuwirken.
Was bewirkt denn jetzt, wenn man in diesem Dialog eine generelle Antihaltung einnimmt, wie jetzt zum Beispiel die AfD sie einnimmt gegen eine ganze Religionsgemeinschaft? Was bewirkt das in der muslimischen Community?
Jouanna Hassoun: Das bewirkt, dass die muslimische Community noch mehr Angst hat, dass die muslimische Community sich abgelehnt fühlt. Und bei Jugendlichen ist es sehr einfach, wenn man so oder so abgelehnt wird, dass irgendein – sage ich mal – Rekrutierer sie dann zusammenfängt und sagt: Seht ihr, von denen werdet ihr abgelehnt, aber von uns werdet ihr angenommen!
Wenn sie aber von der falschen Seite angenommen werden, dann wird es erst für uns gefährlich. Deshalb ist es wichtig, dass man jedem Jugendlichen eine Perspektive auch bietet und ihm sagt: Das ist deine Heimat. Du lebst hier. Und nicht jemanden zu beschimpfen und sagen: Du bist einmal Ausländer, immer Ausländer.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, wer gegen Radikalisierung und gegen Parallelgesellschaften angehen will, muss eigentlich Offenheit und Interesse eher zeigen als Ablehnung?
Jouanna Hassoun: Offenheit und Interesse und Respekt. Genauso wie ich Respekt gegenüber meinen anderen Mitmenschen, egal, ob jung oder alt, zeige, erwarte ich das auch von der Mehrheitsgesellschaft. Wenn eine Ablehnung stattfindet und wenn man sich auch anguckt, wo die hauptsächliche Ablehnung da ist, da gibt es gar keine Berührungspunkte. Also, wenn man jetzt mal auf Dresden schaut: Wie viele Muslime leben denn dort? Die sind ja noch nicht mal sichtbar.
Wenn wir jetzt auf Berlin gucken, hier leben sehr viele Muslime, auch friedlich mit ihren Nachbarn zusammen. Und da funktioniert das besser. Da sind die Ängste – ich will nicht sagen, die sind nicht da, es gibt auch in Berlin vermeintlich besorgte Bürger, Bürgerinnen, aber sie haben die Möglichkeit durch Begegnung sie auch abzubauen.
Deutschlandradio Kultur: Tun da die muslimischen Verbände und Gruppierungen genug, um genau diese Ängste abzubauen?
Jouanna Hassoun: Die muslimischen Verbände sind ein schwieriges Thema. Sie tun vielleicht was dafür. Dazu kann ich jetzt nicht viel sagen. Der Zentralrat der Muslime bemüht sich, da in den Dialog zu treten. Aber es reicht nicht aus, dass man einfach nur als oberste Instanz mit der Politik in Gespräche kommt. Man muss in die Gemeinden reingehen und zum Beispiel ein interkulturelles Fest gemeinsam machen, nicht einfach nur so eine Alibiveranstaltung einmal im Jahr – so, wir machen einen Tag der offenen Tür, das bringt niemandem was.
Wir zum Beispiel vom LSVD, vom Lesben- und Schwulenverband, wir kochen jedes Jahr zum Beispiel in Neukölln, in dem sogenannten Brennpunktviertel. Im Moritz 14 gibt es einen Mieterkochen für Mieter. Und da sind Alteingesessene, aber da sind auch wir vom Lesben- und Schwulenverband. Da sind Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, die gemeinsam essen, die gemeinsam kochen und die auch in Gespräche kommen.
Selbst da habe ich sehr oft gesehen, dass zum Beispiel eine Dame, die 80 Jahre alt ist, die vielleicht vorher noch nie ein Gespräch gesucht hat mit jemand anderem, dass sich auch ihr Bild der arabischen Mentalität verändert hat.
Deutschlandradio Kultur: Der Umgang mit dem Islam und mit Flüchtlingen, der wird sicherlich auch bei den nächsten Landtagswahlen im September eine Rolle spielen in Mecklenburg und in Berlin. Wie würden Sie die Arbeit der beiden Regierungsparteien in Berlin – SPD und CDU – in der Flüchtlingspolitik bewerten?

"In der Flüchtlingsdebatte war ich sehr enttäuscht"

Jouanna Hassoun: Ich war jahrelang selbst bei der SPD Mitglied und nicht nur einfach Karteileiche, sondern auch Funktionärin und habe mich engagiert. Bei mir hat sich das dann irgendwann mal heraus kristallisiert, dass ich mich leider nicht mehr zu der Partei zugehörig fühle, unter anderem wegen der Sarrazin-Debatte. Ich pflege aber immer noch sehr gute Kontakte zu einigen der Kollegen und Kolleginnen.
In der Flüchtlingsdebatte war ich sehr enttäuscht. Die letzten Monate waren wirklich – ob es jetzt die SPD, die Grünen, die CDU war oder die Linke, im Grunde genommen waren viele nur enttäuschend, weil ich persönlich das Gefühl hatte, dass diese ganze Debatte auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen wird und dass sie sich nicht einig geworden sind. Vielleicht raufen sie sich noch zusammen. Um ehrlich zu sein, wenn wir jetzt genau vor Wahlen stehen würde, wüsste ich noch nicht mal wen ich wählen soll. Weil, ich würde mir wünschen, dass die Parteien, die ich auch wählen würde, auch eine klare Kante zeigen und auch eine klare Haltung.
Diese Woche gab es die Dialogkonferenz im Roten Rathaus, wo sich auch der Regierende Bürgermeister von Berlin ganz klar positioniert hat. Er hat gesagt: Wir brauchen das gesamtgesellschaftliche Engagement und wir müssen eine Haltung entwickeln, dass wir nicht nach rechts rücken. Weil, wenn wir jetzt keine Haltung zeigen, dann haben wir auch später ganz große Probleme. – Diese Rede vom Regierenden Michael Müller hat mich auch wirklich schwer beeindruckt, weil mich das nochmal aufgerüttelt hat, dass das auch tatsächlich in der Politik angekommen ist, welches Problem wir mit Rechts haben.
Deutschlandradio Kultur: Zum Abschluss nochmal persönlich gefragt: Was hat Ihnen als ehemaliger Flüchtling dabei geholfen durchzuhalten und Ihren Weg zu gehen hier?
Jouanna Hassoun: Ich glaube, ich war schon als Jugendliche nicht leicht unterzukriegen. Natürlich hatte ich als Kind Schwierigkeiten. Wir sind mehrmals umgezogen. Und dementsprechend habe ich erst irgendwann in der vierten Klasse richtig Deutsch gelernt. Das war für mich ein ziemlich großes Manko.
Aber später, als ich dann in einer richtigen Wohnung gelebt habe, raus aus der Asylunterkunft war und auch Freunde gefunden habe, mit denen ich auch deutsch sprechen konnte, und auch mich beteiligt habe an einem Prozess, wo ein Mädchentreff dann dadurch entstanden ist, das war mir eine sehr große Hilfe, um meinen Platz in der Gesellschaft zu finden.
Und ich wurde auch gefördert. Ich wurde zum Beispiel von den Mitarbeiterinnen von dem Mädchenkulturtreff Dünja sehr gefördert. Der Bezirksbürgermeister von Mitte hat mich sehr gefördert. Aber auch in fast allen Arbeitsbereichen, in denen ich tätig war, hatte ich so eine Art Mentor oder eine Art Mentorin, die mich begleitet haben und die mir auch gesagt haben: Du schaffst es! – Ich habe das vorhin kurz angeschnitten. Ich habe 13 Jahre lang keinen Aufenthaltsstatus gehabt. Mit 18 habe ich erst eine Aufenthaltserlaubnis gekriegt. Ich wollte damals noch Abitur machen, durfte ich nicht, weil, entweder entscheide ich mich zu arbeiten oder ich kriege keinen Aufenthalt. Also habe ich mich für die Arbeit entschieden, um den Aufenthalt zu kriegen. Aber selbst dann habe ich mich nicht entmutigen lassen. Das hat zwar alles länger gedauert, auch mit dem Studium, aber die Förderung durch meine Mitmenschen – mit und ohne Migrationshintergrund – war für mich ein sehr, sehr großer Punkt, um durchzuhalten.
Und natürlich, um ehrlich zu sein, ich habe ein ziemlich gutes Vorbild. Das ist meine Mutter. Die hat sich auch nie unterkriegen lassen, egal was war. Und meine Mutter ist ein kriegsgeschädigtes Kind oder Erwachsene. Die sind ja nur im Krieg aufgewachsen. Und trotzdem ist das eine lebensfrohe Frau. Und die hat mich immer bestärkt, mich nicht unterkriegen zu lassen.
Deutschlandradio Kultur: Danke fürs Zuhören und weiterhin einen schönen Samstag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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