Joseph Kanon: "Leaving Berlin"

Ränke und Winkelzüge im Kalten Krieg

Der ungarische Dramatiker Julius Hay (M.) mit Helene Weigel (l.) und Bertolt Brecht (r.) während einer Veranstaltung anlässlich der Friedenswoche des Kulturbundes in Berlin.
Der ungarische Dramatiker Julius Hay (M.) mit Helene Weigel (l.) und Bertolt Brecht (r.) während einer Veranstaltung anlässlich der Friedenswoche des Kulturbundes in Berlin. © picture-alliance / dpa
Von Thomas Wörtche · 03.12.2015
Joseph Kanon ist Spezialist für die Geschichte der Kalten Krieger: In seinem Spionageroman "Leaving Berlin" über den Kulturbund treffen wir reale Personen wie Bertolt Brecht, Ruth Berlau und Helene Weigel. Sein Ansatz ist nicht neu, aber geschickt und atmosphärisch überzeugend gemacht.
Januar 1949. Der Kalte Krieg droht zu eskalieren, die Sowjetunion blockiert West-Berlin, die Alliierten errichten die "Luftbrücke", um die West-Sektoren zu versorgen. Es herrscht Hochkonjunktur für die Geheimdienste.
Die CIA schickt den in die USA emigrierten deutschen Schriftsteller Alex Meier in die Sowjetzone, wo er sich dem "Kulturbund" anschließen soll, um von dort aus Stimmungsberichte zu übermitteln. Meiers Legende: Er hat, als vor den Nazis geflüchteter "Halbjude" und "Kommunist", den McCarthy-Ausschuss brüskiert und kehrt freiwillig zurück, um mitzuhelfen, das "bessere Deutschland" aufzubauen.
Der Kulturbund war eine Initiative der sowjetischen Militärverwaltung, um die Schönen Künste im "neuen Deutschland" zu fördern und zu alimentieren. Und so schlittert Meier in eine großangelegte Geheimdienst-Operation, bei der natürlich nichts so ist, wie er und damit auch der geneigte Leser es sich vorstellen mag.
Durchsetzt von realen Personen der Zeitgeschichte
Joseph Kanon ist Spezialist für die Geschichte des Kalten Krieger, die er in mehreren Romanen (u.a. "Das Alamo Projekt", "In den Ruinen von Berlin" – gerade prominent verfilmt als "The Good German") einer literarischen Revision unterzieht. "Leaving Berlin" ist durchsetzt von realen Personen der Zeitgeschichte.
Wir treffen Bert Brecht, der mit aparten Zynismen glänzt, Ruth Berlau, Helene Weigel, DEFA-Chef Walter Janka und andere Größen aus Kultur und Politik. Aber die Kultur ist in realpolitischen Zusammenhängen nur Mittel zum Zweck.
Im Fokus der Geheimdienste steht die Ausbeutung der Uranvorkommen im Erzgebirge, für den die UdSSR deutsche Kriegsgefangene und politisch missliebige Menschen als Sklavenarbeiter einsetzt. Meier stolpert über diese Verhältnisse und als er versehentlich einen hohen russischen Geheimdienst-Offizier tötet, gerät er zwischen die Fronten. Denn die zukünftige DDR ist gerade dabei, ihren eigenen Geheimdienst, die spätere Stasi (hier noch: K-5), aufzubauen und für die ist Meier willkommene Beute.
Die Situation spitzt sich zu, Meier muss dringend zusehen, aus Berlin herauszukommen. Und ausgerechnet die CIA ist aus finsteren Gründen dabei nicht unbedingt hilfreich.
Menschlichen Faktor mitdenken
"Leaving Berlin" ist ein klassischer Kalter-Kriegs-Spionageroman, der die ideologischen Fronten von damals extrem skeptisch betrachtet. Seine Figuren handeln aus dem historischen Kontext heraus, den Kanon brillant rekonstruiert. Die Ränke und Winkelzügen, die Intrigen und Gegenintrigen und deren jeweiligen ideologischen Begründungen dienen weder dem Wohl der Menschen noch irgendwelchen Werten, ihr Kalkül ist machtpolitisch.
Das ist – formal – weder neu noch originell, aber geschickt und atmosphärisch überzeugend gemacht, routiniert geplotted und spannend allemal. Ein im Grunde unspektakuläres Mosaiksteinchen zu einem weltgeschichtlich wichtigen Datum, das durch die Präzision, mit der Kanon die Konstellation der Zeit an Menschenschicksalen festmacht, nicht vergessen lässt, wie wichtig es ist, den human factor mitzudenken. Gerade ex post, wenn man meint, abstrakt über historische Begebenheiten urteilen zu können.

Joseph Kanon: "Leaving Berlin"
Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel.
C. Bertelsmann, München 2015
445 Seiten, 19,99 Euro

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