Josef Joffe über Heinrich Manns Buch "Der Untertan"

"Ich halte die Deutschen für ziemlich anarchisch"

Josef Joffe Herausgeber der "Die Zeit".
"Der deutsche Mensch lässt sich doch heute nicht mehr von den Bütteln der Staatsmacht einschüchtern", sagt Josef Joffe. © imago stock&people
Josef Joffe im Gespräch mit Axel Rahmlow · 30.11.2018
Mit 14 Jahren entdeckte Publizist Josef Joffe Manns "Der Untertan". Von einem Untertanentum, wie dort ironisch beschrieben, seien die Deutschen inzwischen weit entfernt. Politischer Protest gehöre inzwischen zur Normalität.
Nach oben buckeln, nach unten, so lautet das Lebensmotto von Diederich Heßling. Er ist der perfekte Untertan und Hauptfigur von Heinrichs Mann gleichnamigen Buch. Das erschien vor 100 Jahren und ist eine bittere Kritik an der deutschen Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs.
Im  Vordergrund das Cover von Heinrich Manns "Untertan", im Hintergrund der Autor am Schreibtisch sitzend.
Sechs Wochen nach Erscheinen des „Untertans“ waren bereits 100.000 Exemplare verkauft.© dpa picture alliance / akg-images
Doch wie obrigkeitshörig sind die Deutschen heute, 100 Jahre nach Erscheinen des Buchs? Josef Joffe, Herausgeber der Zeit, findet, es hat sich viel getan:
"Früher hat der Staat einen gefragt: Können Sie sich ausweisen? Heute fragt er: Was kann ich für Sie tun? Früher war der Postbote eine Autoritätsfigur, heute kommt er mit Jeans und Pullover. Dieser Umgang miteinander ist soviel entspannter geworden. Wir sind viel schneller beim Du."

Schlangestehen als Metapher für Demokratie

Das Schönste, sagt Joffe, sei, dass die Deutschen gelernt hätten sich in die Schlange einzureihen anstatt immer nach vorne zu drängen.
"Das Schlangenanstehen ist eine Metapher, die für vieles steht. Leute, die in einer Schlange anstehen, haben ein Grundvertrauen gegenüber den anderen, dass die sich nicht vordrängen werden. Der zweite Punkt: Schlangen organisieren sich von selbst. Die brauchen keinen Untertanen oder Obertanen, die den Leuten sagen: Hier müsst ihr euch jetzt anstellen. Dahinter steckt mehr liberale Demokratie als man sich vorstellen kann."

Politischer Protest sei normal geworden

So wirklich nach Rebellentum klingt das aber nicht. Für Autoritätshörig hält Joffe, die Deutschen aber gar nicht:
"Ich halte die Deutschen für ziemlich anarchistisch. Sie parken zum Beispiel alle auf dem Bürgersteig. Das ist Anarchie! Und sie gehen auch schnell auf die Straße und protestieren. Protest und politischer Aktivismus gehören zur Tagesnormalität. Der deutsche Mensch lässt sich doch heute nicht mehr von den Bütteln der Staatsmacht einschüchtern."
(mw)
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