Jorge Edwards: „Der Ursprung der Welt“

Rezensiert von Uwe Stolzmann |
Alles beginnt in einer Pariser Gemäldegalerie. Der chilenische Arzt Patricio und Ehefrau Silvia betrachten ein Aktgemälde von Gustave Courbet, „Der Ursprung der Welt“ von 1866. Der Kopf der Porträtierten, verhüllt von einem Laken, ist nicht zu sehen. Und dennoch hat Patricio den Eindruck, die Dame habe große Ähnlichkeit mit seiner Silvia.
Schlimmer noch: Das Bild ähnelt auch jenen Fotografien, die sein guter Freund Felipe zu machen pflegt. Felipe, ein wahrer Don Juan, fotografiert alle Geliebten nackt, in verführerischer Pose. Patricio überlegt: Wenn dieser Felipe das Courbet-Gemälde tatsächlich jemals kopiert haben sollte, kam als Modell – der verrückte Schluß liegt nahe – nur die junge und gut gebaute Silvia in Frage.

Silvia ist empört. Doch für ihren Mann, den siebzigjährigen Medizinprofessor, wird der Verdacht zur Obsession. Nicht nur die Ehe, seine ganze bürgerliche Existenz gerät aus den Fugen. Ein Eifersuchtsdrama beginnt. Den Freund, ebenfalls Chilene, kann der sonst so ausgeglichene Patricio nicht mehr zur Rede stellen, denn Bonvivant Felipe stirbt plötzlich an einer Überdosis Kokain. Nun spielt Patricio Detektiv: Er verhört seine Frau und läßt sie – nur der Probe halber – wie das Modell auf dem Courbet-Bild posieren. Er befragt alte Freunde, die Genossen von einst und selbst die Kellner naheliegender Restaurants. Er durchsucht sogar Felipes Wohnung. Dort findet er ein Aktfoto, die Pose bekannt, das Gesicht verhüllt – eindeutig „Der Ursprung der Welt“. Und gleich dabei: ein Paßbild von Silvia...

Autor dieses virtuos inszenierten Prosastücks ist – natürlich – ein Chilene: Jorge Edwards, Jahrgang 1931, geboren in Santiago. Edwards besitzt eine typisch lateinamerikanische Künstler-Vita. Er studierte Jura und Philosophie, bevor er als Diplomat sein Land in Brüssel, Havanna, Lima und Paris vertrat. Ab 1973, nach dem Putsch in Chile, lebte er fünf Jahre im spanischen Exil. Sein erzählerisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, auch mit dem „Premio Cervantes“, dem wichtigsten Preis der spanischsprachigen Welt.

In „Der Ursprung der Welt“ zeichnet Jorge Edwards mit Zuneigung und viel Ironie das Bild einer Emigrantengemeinde in Paris, der heimlichen Hauptstadt aller Latinos. Er beschreibt die kleinlichen Revierkämpfe der Chilenen, ihren orthodoxen Glauben an den Kommunismus und das Trauma Exil. Silvia sagt: „Der Putsch hat uns gezwungen, die Welt kennenzulernen. Eine Rückkehr wäre der vorgezogene Tod.“ Auch als feinfühlige Studie über Liebe, Leid und Leidenschaft im Alter empfiehlt sich das Buch. Wie sagte Seneca, von Jorge Edwards so gern zitiert: „Dieser Tag, den wir leben, teilen wir mit dem Tod.“ Aber traurig ist er nicht, der kleine Roman. Frisch ist er, frech und weise. Oder, wie Mario Vargas Llosa nach der Lektüre befand: Großartig, komisch, unterhaltsam.

Jorge Edwards: Der Ursprung der Welt. Roman. Aus dem chilenischen Spanisch von Sabine Giersberg
Wagenbach Verlag, 2005
167 Seiten, 17,50 Euro