Jonathan Franzen

    Von Tobias Wenzel · 30.08.2013
    Warum betritt Jonathan Franzen einen Friedhof mit Fernglas? Und wie hängt das mit dem Tod seiner Mutter zusammen?
    "Ein schöner Grund, den Green-Wood Cemetery zu besuchen, ist die Papageienkolonie, die im Hauptturm über dem barocken Eingangsportal aus dem 19. Jahrhundert lebt. Die Vögel dort begrüßen einen, wenn man den Friedhof betritt, als wollten sie sagen: 'Du bist nur ein Besucher, wir aber wohnen hier!'"

    Es ist Mitte Mai, Zeit der Zugvögel. Sie machen Halt auf dem Friedhof, der aussieht wie ein riesiger, hügeliger Park. Von hier aus, dem höchsten Ort Brooklyns, reicht der Blick bis nach Manhattan, bis zum Atlantik.

    "Was war denn das?! ‒ Ein Schnäpperwaldsänger, ein Weibchen, ist gerade eben vorbeigeflogen."

    Jonathan Franzen steht angelehnt an einen übermannshohen Grabstein und geht seinem Hobby nach: Gebannt blickt er durch ein Fernglas. Mit den Fingerspitzen der einen Hand stützt er es, um es so millimetergenau mit der anderen schwenken zu können:

    "Da oben: Schornsteinsegler. Etwas kleiner als die europäischen Segler. Und ein Gelbscheitel-Waldsänger."

    "Man entwickelt doch eine persönliche Beziehung zu den Vögeln, die man beobachtet. Und gleichzeitig kann man nicht darüber hinwegsehen, dass sie viel schneller sterben, als das meiste, was uns wichtig ist. Der Tod ist mir nun näher als in der Zeit, als ich noch keine Vögel beobachtet habe."

    Die Grabsteine im Gras werden zu Stolpersteinen. Denn Jonathan Franzen läuft, die Nase in die Luft gereckt, den Vögeln nach. In einem solchen Tempo, dass er, eh man sich’s versieht, hinter irgendeinem Friedhofshügel verschwunden ist und sich dann kaum noch einfangen lässt.

    "Wenn man Vögel und ihr kurzes Leben betrachtet, dann begreift man: Etwas, das ausgelöscht ist, ist unwiderruflich ausgelöscht. Der Tod macht mir aber weniger Angst, wenn ich mir klar mache, dass er gar kein kontinuierlicher Übergang von Punkt A zu Punkt B ist. Er ist nur ein plötzlicher Sprung ‒ zack! ‒ und dann gibt es dich nicht mehr. Ich kann mich damit trösten, dass Menschen, die mir etwas bedeutet haben, es auch schon geschafft haben, auf diese Weise zu verschwinden: meine Eltern und mein Freund David Wallace. Auch hier hilft mir die Natur: Sie verlangt nichts von uns, was wir nicht liefern könnten. So schlimm es auch ist, über das Sterben nachzudenken ‒ es ist in Reichweite eines jeden von uns. Besondere Qualifikationen sind nicht erforderlich. Ich bekomme das also schon hin, wenn ich an der Reihe bin. Auch wenn ich mich jetzt nicht gerade darauf freue."

    Jonathan Franzen auf dem Green-Wood Cemetery
    Jonathan Franzen auf dem Green-Wood Cemetery© Tobias Wenzel/ Knesebeck Verlag

    Lieber als über den Tod von Menschen spricht Jonathan Franzen über Vögel. Dabei ist beides im Leben dieses Autors untrennbar miteinander verbunden. Wir reden nicht darüber. Stattdessen bitte ich ihn, die entsprechende Stelle aus seiner Autobiographie "Die Unruhezone" zu lesen:

    "Dann starb meine Mutter, und zum ersten Mal in meinem Leben ging ich Vögel beobachten. Das war im Sommer 1999. [...] Alle paar Stunden brach ich in Tränen aus, was ich als ein Zeichen dafür wertete, dass ich mich durch meine Trauer arbeitete und sie bald überwunden hätte. Ich saß mit dem Fernglas auf dem Rasen und beobachtete eine Tüpfelgrundammer, die eifrig im Gebüsch scharrte wie jemand, der richtig gern Gartenarbeit macht."

    "Moment mal!"

    Jonathan Franzen blickt von seiner Autobiographie auf und setzt das Fernglas wieder an:

    "Da ist noch ein umwerfend schöner Meisenwaldsänger!"

    "I am Jonathan Franzen, I am in Green-Wood Cemetery, New York City, United States"

    Zwei Jahre habe ich auf das Treffen mit Jonathan Franzen gewartet, das, so sein Wunsch, unbedingt im Mai stattfinden solle. Dann könne er auf dem Friedhof interessante Zugvögel beobachten. "Ich habe mein Fernglas vergessen" ist nach der Begrüßung das erste, was Franzen mir sagt, als er den Friedhofshügel zu mir hochkommt. Irgendwie habe ich das befürchtet und deshalb zuvor für diesen Notfall im Supermarkt ein Fernglas gekauft und zum Friedhof mitgebracht. Offensichtlich kein Vergleich zum Profigerät des Schriftstellers. Denn als er einen Rosenbrust-Kernknacker, einen Zedernseidenschwanz und einen Dunenspecht beobachtet hat, sagt er: "Das macht schon Spaß. Selbst mit diesem beschissenen Fernglas."