John Irving: "Straße der Wunder"

Reise auf die Müllkippe der Kindheit

Ein kleiner Junge läuft über eine Müllkippe
Ein kleiner Junge läuft über eine Müllkippe © picture alliance / dpa / Imaginechina
Von Irene Binal |
Der berühmte US-Schriftsteller Juan Diego reist in "Straße der Wunder" auf die mexikanische Müllkippe, auf der er aufwuchs - und versinkt in Erinnerungen. US-Erfolgsautor John Irving kombiniert in seinem neuen Werk Motive früherer Romane und macht sich dabei über sie lustig.
John Irving hat sehr Gutes und weniger Gutes geschrieben. Sein neuer Roman gehört fraglos in die erste Kategorie. "Straße der Wunder" ist die Geschichte des Autors Juan Diego, der in doppelter Hinsicht auf die Reise geht: Er fliegt auf die Philippinen, um einem verstorbenen Freund einen Wunsch zu erfüllen. Und er reist in seine Vergangenheit, auf die Müllkippe in der mexikanischen Stadt Oaxaca, wo er und seine Schwester Lupe aufwuchsen.
Eine schlimme Kindheit, möchte man meinen, aber Juan Diego und Lupe sind umgeben von liebevollen Menschen: Bruder Pepe, Lehrer an der Jesuitenschule, versorgt den "Müllkippenleser" Juan Diego mit Büchern, Rivera, der Chef der Mülldeponie, ist den Kindern ein guter Stiefvater (auch wenn er schuld an jenem Unfall ist, der Juan Diego zu lebenslangem Hinken verdammt), der amerikanische Missionar Eduard Bonshaw verliert sein Herz an die Transvestiten-Prostituierte Flor und dieses liebenswerte Paar nimmt Juan Diego in die USA mit, wo er zum berühmten Schriftsteller avanciert.
All dies rekapituliert der alternde Juan Diego in seinen Träumen, in denen er so sehr versinkt, dass ihn das Bordpersonal im Flugzeug nach Manila für tot hält. Wenn er nicht träumt, ist er mit Miriam und ihrer Tochter Dorothy beschäftigt, die er am Flughafen kennengelernt hat, zwei geheimnisvolle Gestalten, die – obwohl sie Juan Diego mit sehr irdischem Sex beglücken – nicht ganz von dieser Welt zu sein scheinen.

Dominante Frauen, vaterlose Kinder, sexuelle Grenzgänger

In all dem finden sich deutliche Anklänge an Irvings frühere Romane. Juan Diegos Schwester Lupe, die Gedanken lesen kann und manchmal die Zukunft sieht, ist so etwas wie eine Enkelin von Owen Meany - bis hin zur kaputten Stimme. Flor, der sympathische Transvestit, könnte im Hotel New Hampshire verkehren, der Zirkus, in dem Juan Diego sich als Hochseilartist beweisen will, erinnert an "Zirkuskind", und der Arzt Dr. Vargas, der nicht nur Juan Diegos Fuß behandelt, ist ein Verwandter von Wilbur Larch aus "Gottes Werk und Teufels Beitrag".
Dabei macht sich Irving ungewohnt selbstironisch über seinen Hang zu Wiederholungen lustig. "Wassertreten, ein wenig Hundepaddeln – das ist so ähnlich, als würde man einen Roman schreiben", sagt Juan Diego. "Es kommt einem so vor, als würde man eine lange Strecke zurücklegen, aber im Grunde beackert man altes Terrain."
So setzt John Irving seine bekannten Motive – dominante Frauen, vaterlose Kinder, sexuelle Grenzgänger – neu zusammen, würzt das Ganze mit geisterhaften Dachhunden und eifersüchtigen Löwinnen und unterlegt es mit tiefgehenden Fragen. Es geht um Religion (wenn Lupe dem "Monster Maria" vorwirft, ihr indigenes Gegenstück, die Jungfrau von Guadalupe, zu tyrannisieren), um den Moment, in dem sich ein Schicksal entscheidet, um Wunder und den Glauben an Wunder, um Träume und Erinnerungen, die in Irvings grandioser Dramaturgie fließend in die Gegenwart eindringen. Ein Roman, der bezaubert, berührend, klug und ganz und gar fesselnd: Man kann hoffen, dass John Irving sein "altes Terrain" noch sehr oft auf diese Weise beackert.

John Irving: "Straße der Wunder"
Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog
Diogenes Verlag, Zürich 2016
777 Seiten, 26 Euro

Mehr zum Thema