Johannes Willms: "Napoleon"

Rezensiert von Wilhelm von Sternburg |
Wie Alexander oder Cäsar gehört der Korse Napoleon Bonaparte zu den großen Gestalten der Weltgeschichte, deren Auftritte die Phantasie der Zeitgenossen und Nachgeborenen fesseln. Legenden ranken sich um ihre Taten und ihre Biographie. Vielen galten sie als die epochalen Beweger und Reformer der Völker, die sie besiegten und über die sie herrschten. Heute sind wir skeptischer und ahnen: Sie waren auch die großen Verbrecher der Weltgeschichte.
Er hat das 19. Jahrhundert geprägt wie nur wenige andere Akteure auf der politischen Bühne Europas. Wie ein Komet taucht er auf, verändert die politische Landkarte des Kontinents, um dann nach nur zwei Jahrzehnten als Eroberer und Herrscher auf einer fernen tropischen Insel zu verglühen. Seine militärischen Schlachten, die ihn schließlich für eine historische Sekunde zum Herren über Frankreich und seine Nachbarn machen, fordern ungeheure Menschenopfer. Seine Politik ist ganz dem Götzen Macht unterworfen, und die Spuren seines Wirkens sind nicht nur in Frankreich bis heute erkennbar.

Wie Alexander oder Cäsar gehört der Korse Napoleon Bonaparte zu den großen Gestalten der Weltgeschichte, deren Auftritte die Phantasie der Zeitgenossen und Nachgeborenen fesseln. Legenden ranken sich um ihre Taten und ihre Biographie. Vielen galten sie als die epochalen Beweger und Reformer der Völker, die sie besiegten und über die sie herrschten. Heute sind wir skeptischer und ahnen: Sie waren auch die großen Verbrecher der Weltgeschichte. Ihr egomanischer Machtwille löste wahre Mordorgien aus. Auf den Schlachtfeldern verbluteten Millionen junger Menschen. In ihrem Herrschaftsbereich errichteten sie Diktaturen und wer gegen sie war, wurde dem Henker ausgeliefert oder schmachtete in düsteren Verließen. Geschichte ist immer janusköpfig, Verbrechen und zivilisatorischer Fortschritt stehen eng beieinander.

Wohl über keinen Herrscher, Politiker oder Feldherren ist aber eine solch Flut von Büchern, Schriften und Broschüren erschienen, wie über Napoleon. Glanzvolle Werke sind darunter. In erster Linie natürlich aus der Feder französischer Autoren, wie etwa die großen Biographien von Georges Lefebvre oder Jean Tulard. Aber auch russische, englische oder italienische Historiker sind nicht von diesem Mann los gekommen, dessen Auftritt in der europäischen Geschichte so tief greifend in die Entwicklung ihrer Völker eingegriffen hat. Die Deutschen, deren "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" er durch seine Schlachtensiege auf den Schutthaufen der Geschichte warf, blieben von ihm nicht weniger fasziniert. Zunächst feierten sie ihn als scheinbaren Befreier vom Fürsten-Absolutismus und Vollender der Französischen Revolution. Dann, als die Maske fiel, seine Truppen sich als arrogante Eroberer und beutegierige Okkupanten in den deutschen Staaten festsetzen, wuchsen die Hassgefühle. "Schlagt ihn tot! Das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht", fordert der wutschäumende Heinrich von Kleist seine Landsleute mit Blick auf die französischen Besatzungstruppen auf. Was sie dann in den Befreiungskriegen, in denen sich die erste deutsche Nationalbewegung formiert, auch tun.

Gibt es aber nach allem, was über diesen Mann und sein Werk geschrieben, diskutiert und geurteilt worden ist, noch etwas aufregend Neues zu berichten? Jedenfalls sollte es in erster Linie wohl der Blick des Heute auf das napoleonische Gestern sein, die Einbindung der Erfahrungen, die wir mit der politischen Diktatur-Moderne gemacht haben, an deren Anfang Napoleon stand, die eine dem Buchkonsumenten viele Lesestunden abforderndes neuerliches Biographie-Abenteuer verständlich erscheinen lässt. Diesen Weg sind in den letzten Jahren der Franzose Roger Dufraisse oder die deutschen Autoren Eckard Kleßmann und Volker Ullrich mit beachtlichem Erfolg in ihren schmalen, aber interessanten biographischen Essays gegangen. Nun legt Johannes Willms, Frankreichkenner und Pariser Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung, seine umfangreiche Napoleon-Biographie vor. Zweifellos ein wagnisreiches Unternehmen. Denn den Leser auf 700 Textseiten mit einer Geschichte zu fesseln, die er in der Regel kennt, bedarf einer besonderen, spannungsreichen Darstellungsform und eines neuen, die Erkenntnisse der modernen Gesellschaftswissenschaften berücksichtigenden Blicks.
Willms aber wählt eine überraschend konservative, an Biographien aus dem 19. Jahrhundert erinnernde Darstellung. Er erzählt allein die politische Geschichte dieses übermächtigen Herrschers. In welchem gesellschaftlichen Umfeld Napoleons Aufstieg möglich geworden ist, wie sehr seine Herrschaft von den ökonomischen und soziologischen Bedingungen der Frühmoderne bestimmt worden ist, warum er nicht nur - wie Willms es sehr eindimensional beschreibt – wegen seiner omnipotenten Machtphantasien, sondern vor allem auch wegen der Handels- und Finanzstrukturen der heraufdämmernden industriellen Revolution zum Untergang verurteilt war, darüber erfahren wir fast gar nichts.

Napoleons Bild in der Geschichte wird vor allem von seinen Erfolgen als Feldherr beherrscht. Fraglos steht er als Heerführer und Stratege in einer Reihe mit Alexander, Hannibal oder Cäsar. Zwischen 1796 und 1815 lenkte er über 60 Schlachten, in denen er bis zum furchtbaren Gemetzel von Eylau am 8. Februar 1807 alle für sich entschied. Dabei bezwang er trotz seiner Jugend weitaus ältere und vielfach erprobte Gegenspieler, seine Kriegskunst, die Grundlage seines Ruhms, bedarf deshalb einer näheren Betrachtung.

So ist es wohl. Aber diese "näheren Betrachtungen" füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Da weiß Willms nicht mehr, als nur allzu Bekanntes zu erzählen. Wobei es keineswegs falsch ist, was er beispielsweise von Napoleons Denken in Sachen Krieg formuliert:

Napoleon begriff den Krieg als Duell. So definierte ihn Clausewitz später, dessen Theorie vom Kriege Napoleons Beispiel viel verdankt. Der Krieg als Duell zweier Mächte bedeutete für Napoleon, einen Feldzug entschlossen und rasch mit dem operativen Ziel zu führen, den Gegner auszuschalten. Ein solcher Waffengang hatte, wie er wiederholt betonte, den großen Vorteil, die Verluste an Menschen und Material – die eigenen wie des Gegners – möglichst gering zu halten. Das hatte allerdings nichts mit humanitären Rücksichten zu tun, die nicht nur Napoleon, sondern auch der Zeit eher fremd waren.

Aber selbst dort, wo der Biograph sich den charakterlichen Untiefen seines Helden nähert, kommt er über die herkömmlichen Darstellungen Napoleons nicht hinaus
Bonaparte war ein Getriebener, dessen Lebensmotto hätte lauten können: Ich handle, also bin ich. Auf den eigenen Lorbeeren auszuruhen und im Bewusstsein seiner vielfach erprobten Überlegenheit den richtigen Moment abzuwarten, war nicht seine Sache. Auf selbstgewisser Eitelkeit, so hatte ihn das Beispiel Lafayette gelehrt, ruhte wenig Segen, weil die Gemüter noch immer infolge der revolutionären Gärung heftig moussierten und in entsprechend raschem Wechsel ihre Idole verschlissen.

Willms steht der Person und der Politik Napoleons überaus kritisch gegenüber. Was natürlich angesichts der schrecklichen Heimsuchungen, die der Feldherr und Kaiser für Europa bereithielt, seine Berechtigung hat. Nach Stalin und Hitler sind wohl alle Illusionen verflogen, die angeblich großen Männer der Geschichte hätten sich quasi automatisch das Recht auf pathetische Glorifizierung erworben. Allerdings gewinnt man den Eindruck, dass Willms in seiner verständlichen Antipathie Napoleon nahezu jede politische, organisatorische und vielfach auch militärische Könnerschaft abspricht. Der Leser gewinnt mit fortschreitender Lektüre häufig den Eindruck, seine Siege auf dem Schlachtfeld seien im Grunde lediglich dem Erfolg seiner Generäle oder als Glücksfälle zu deuten, die durch das Versagen seiner Feinde eintraten. Der "Code Napoleon", die Neuordnung Deutschlands – fast nichts lässt der Biograph gelten. Vieles im Urteil der Nachwelt, so schreibt er, beruhe auf Legenden, vom genialen Propagandisten der eigenen weltgeschichtlichen Rolle selbst in die Welt gesetzt. Aber das ist nur eine Teilwahrheit. Sich dem Phänomen Napoleon zu nähern, bedarf des tieferen Blicks auf die Rolle des Charismatischen in der Politik, auf die Macht der Persönlichkeit in Gesellschaft und Geschichte, auf die Zeit, die gerade einen solchen Protagonisten des Krieges und der Gewalt wie ihn hervorbringen konnte. Da reichen immer wieder mit deutlichen Zeichen von Abscheu wiederholte Formulierungen wie "Machtbesessenheit" oder "politischer Opportunismus" ebenso wenig wie verspielte feuilletonistische Deutungen:

Das Kunststück, diese Metamorphose, bei der sich ein republikanischer General obskurer korsischer Herkunft in den Kaiser Frankreichs und Begründer einer vierten Dynastie verwandelt, gleichsam auf offener Bühne und unter den Augen eines staunenden Publikums aufzuführen, muss selbst dem Bewunderung abnötigen, der dem Ergebnis nicht kritiklos gegenübersteht. Die perfekte Inszenierung dieses Stücks, bei dem Bonaparte alle Rollen mit der gleichen Umsicht ausfüllte, nicht nur als Hauptdarsteller, sondern auch als Autor und Regisseur, ist von allen seinen Leistungen die meisterlichste.

Natürlich kennt Willms sein Thema. Er zitiert breit aus Dokumenten oder aus Erinnerungen und Briefen von Gefährten und Gegnern des Kaisers. Er konfrontiert den Leser mit einer Überfülle von Fakten, die zumindest das äußere Gerüst dieses spektakulären Lebens errichten. Aber es ist schade, dass er sein großes Wissen so wenig nutzt, um ein breites, modernes Gemälde zu zeichnen, das uns verstehen lässt, warum nicht das Scheitern Napoleons für uns Heutige so wichtig ist, sondern die Umstände, die einen politischen Täter wie ihn ermöglicht haben.


Johannes Willms:
Napoleon. Eine Biographie
C. H. Beck Verlag, München 2005