Jogginghose und Co.

Schluss mit der Pandemieverwilderung!

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Eine Illustration zeigt einen bärtigen Höhlenmensch, der einen Computerbildschirm berührt.
Manch einer lässt aus Bequemlichkeitsgründen die lästige Beinbekleidung bei einem Video-Meeting schon ganz weg. © IMAGO / fStop Images / Malte Mueller
Überlegungen von Eva Sichelschmidt · 26.02.2021
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Wir haben uns eingerichtet in unseren Homeoffices und Homeschools. Die Frage "Barfuß oder Lackschuh?" stellt sich vielen gar nicht mehr. Die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt fordert wieder mehr Stil und Selbstachtung.
"Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren" – wie hat man gelacht, als man das Bonmot von Karl Lagerfeld zum ersten Mal hörte. Die besondere Komik lag in dem unmittelbar auftauchenden Bild: Karl der Große mit Fächer, fein frisiertem Pferdeschwanz, steifem Kragen und Slimfitjacket, untenrum in einer ausgebeulten grauen Rapper-Buxe.
Genug gelacht: Die Kontrolle über das Leben scheint seit einem Jahr endgültig verloren. Die Menschheit hat sich in ihre Bequem-Kleidung zurückgezogen. Und mit jeder Verlängerung des sozialen Ausnahmezustands sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass man noch einmal aus ihr herausfindet, aus der Sportbekleidung, in der keine Körperertüchtigung getrieben wird, in der man sich bloß einer der jüngsten, noch viel zu wenig beachteten Todsünden hingibt: der Gemütlichkeit.

Die Bequemlichkeit hat sich breitgemacht

Nur wenige unter uns haben in diesen Krisenzeiten die bedeutendsten Werke der Weltliteratur einem Netflixabo vorgezogen. Längst verstaubt die Yogamatte zusammengerollt mit den guten Vorsätzen, schockartig gefasst am Beginn des ersten Ausnahmezustands.
Wer lässt sich noch von den Löchern im Gürtel der Anzughose drangsalieren, wenn ihm der weiche Gummibund der Schlabberhose die fünf Kilo mehr auf den Hüften klaglos verzeiht. Manch einer lässt aus Bequemlichkeitsgründen die lästige Beinbekleidung schon ganz weg und geht unten ohne in den Zoom-Chat. Oben Hemd und unten frei: Da empfiehlt sich ein gutes Gedächtnis, wenn man sich vor dem eingeschalteten Monitor erhebt.
"Sehe ich etwa aus wie jemand, der kochen kann?", war noch so ein Lagerfeld-Spruch. So hatte er einmal pikiert einen Journalisten angefahren, der es gewagt hatte, ihn nach seinen Kochkünsten zu befragen. Karl ließ kochen, allerdings, das ist anzunehmen, nicht vom Take-Away-Imbiss.
Vor gut einem Jahr machten Bilder von nachgekochten, sagenhaft ausgefallenen Ottolenghi-Menüs bei Kerzenschein in den sozialen Netzwerken die Runde, heute quellen die Mülltonnen von Lieferando-Verpackungen über. "Du lässt dich gehen" – ist das Chanson von Charles Aznavour, Anfang der 60er-Jahre etwa wieder das Lied der Stunde?

Wo ist der Respekt vor sich selbst geblieben?

"Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, nichts schleicht sich so schnell ein wie die Nachlässigkeit", behauptet meine Hundertdreijährige Großmutter. "Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ungeschminkt am Küchentisch gesessen", sagt sie stolz, was bis zum heutigen Tag der Wahrheit entspricht. Neben Großmutters Sofa liegen die "bunten Illustrierten", wie sie die Zeitschriften nennt, in denen seit jeher blondierte Stars und toupierte Sternchen befragt werden.
So lange ich mich erinnern kann, wird da in Interviews mit Überschriften wie "Das Geheimnis ihrer Schönheit" behauptet, man mache sich nicht für die anderen schön, sondern aus Respekt vor sich selbst. Wahrheit oder Pflicht? Fest steht: Haltung hat noch nie geschadet.
Nun gut, leicht ist das gerade nicht. Wer dieser Tage zum Beispiel Lippenstift trägt, der hat beim Ablegen einer FFP2- Maske eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Joker aus dem Batman-Film.

Selbstachtung wird belohnt

Wo ist das Start-Up, das maskentaugliches Make-Up herstellt? Doch Hoffnung naht, dass man sein Äußeres bald wiederherstellen kann. Anfang März sollen die Friseursalons wieder öffnen. Und mit dem neuen Haarschnitt mal etwas Gewagtes probieren?
Heraus mit dem eingemotteten Festtagsanzug, Schlips umgebunden und rein in die nächste Videokonferenz, die Kollegen werden staunen. Oder vielleicht auch heute schon mal auf High Heels, im Abendkleid zum Discounter stöckeln? Wer so angetan den Einkauf meistert, für den bedeutet der nächste real existierende rote Teppich keine Herausforderung mehr.
Es lohnt sich, nicht aufzugeben. Denn es gibt sie, die stabilisierende Wirkung durch Form und Stil auf unsere ramponierte Seele.

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft "Whisky & Cigars" eröffnete. 2017 erschien der Roman, «Die Ruhe weg» (Knaus), 2019 "Bis wieder einer weint" (Rowohlt). Sie lebt in Rom und Berlin.

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