Jochen Schmidt: „Phlox“

Sommerlandidylle in Schmogrow

06:30 Minuten
Auf dem Cover ist ein Stilleben in Form einer Druckgrafik abgebildet, auf der ein Blumenstrauß auf einem karierten Tischtuch zu sehen ist, neben der Vase steht ein Modellauto, auf dem ein angebissener Apfel liegt, daneben ein Handy-Ladegerät und ein Unterkiefer. Darüber Autorenname und Buchtitel.
© C.H. Beck Verlag

Jochen Schmidt

PhloxC.H. Beck, München 2022

479 Seiten

25,00 Euro

Von Elke Schlinsog · 15.09.2022
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Kuchen unter der Kastanie und Suhrkamp-Bändchen im Regal: Hauptfigur Richard Sparka erinnert sich an seine Sommerferien im Oderbruch. Doch Jochen Schmidts neuer Roman ist kein ostalgisches Abschiedsbuch, sondern vermischt Vergangenheit und Gegenwart.
Der Berliner Schriftsteller Jochen Schmidt ist und bleibt ein Erinnerungsmeister, der seinesgleichen in der deutschen Gegenwartsliteratur sucht. Bereits in seinen Büchern „Schneckenmühle“ und „Zuckersand“ ist er als Flaneur durch seine Kindheit gereist. Alles, auch Kleinstdinge des Lebens, eine liegengebliebene Socke oder eine Pfütze am Straßenrand, nutzt er wie im Proustschen Erinnerungsreigen für seine immer neu sprudelnden Geschichten.
In seinem aktuellen Roman „Phlox“ reicht ihm das beruhigende Geräusch der Holzböcke im alten Bauernhaus, um ein „Schmogrow-Gefühl“, einen Assoziationsreigen an vergangene Sommerferientage im Brandenburgischen auszulösen. Ein Dauererinnerungsstrom, über 470 Seiten lang, der diejenigen, die sich darauf einlassen, hineinlässt in diese Wunderkammer der Erkundigungen.
Was lohnt sich, an Erinnerungen festzuhalten? Alles, beweist Jochen Schmidts Roman „Phlox“.

Sommeridylle in Schmogrow

Hierin schickt er seinen umsichtigen Helden Richard Sparka, einigen Leserinnen und Lesern vertraut aus „Zuckersand“, zurück in das geliebte Sommerparadies seiner Kindheit. In Schmogrow im Oderbruch hatte er beim Ehepaar Tatziet, das so viel Lebensfreude versprühte, unzählige Feriensommer verbracht; ihr Haus und Garten war zu einer Art Kommune aus Freunden und Verwandten geworden.
Für Sparka, inzwischen reist er mit seiner eigenen kleinen Familie an, ist es die letzte Gelegenheit, bevor das Grundstück an einen Autohändler verkauft und aus der Sommerlandidylle ein Biker-Inn für Motoradfahrer wird. Bevor alles verschwindet, forscht er noch einmal dem Glück dieses Ortes nach, vielmehr, er verfasst nichts Geringeres als eine „Studie über die Schönheit“.

Schönheit im Banalen

Und Schönheit findet er in seinen Schmogrower Erinnerungen überall. Wie so oft entspringt sie dem Einfachen und Banalen. Die einstige Sommerlaune auf dem Hof ist beim Lesen schier mit den Händen zu greifen:
Wie am großen Esstisch unter der Kastanie immer mehr Gäste Platz fanden („Bringt Kuchen, es kommt neues Material!“), wie sich vergnügt die zu geflügelten Worten gewordenen Bemerkungen von Frau Tatziet zugerufen wurden („Es ist doch zu döselich heute“) – und wie beglückend es war, im „Grünen Gewölbe“ des Hauses ein Suhrkamp-Bändchen zu entdecken („Bei Deiner Tante ist keine Ostzone.“).
Gäbe es nicht schon Christa Wolfs „Sommerstück“, das 1989 für einen überhitzten Sommermoment die Enge der DDR nicht kennt und die Freiheit und das Glück der Gemeinschaft beschwört, wäre es nun mit Jochen Schmidts Roman festgeschrieben.

Verdrängte Verbrechen

Wer ein nostalgisches Abschiedsbuch über Ostkindheit und Jugend erwartet, ist fehl am Platz. Auf welche Weise Jochen Schmidt das Schmogrower Ehepaar Tatziet porträtiert, das sowohl kerzengerade wie gebrochen durch Nazi- und DDR-Diktatur gegangen ist, gibt dem Roman eine weitere Facette. In mäandernden Sätzen, nahezu absatzlos, lässt der Autor hier Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen.
So führt der Gang durch den Garten den Erzähler über den „Geheimweg“ an die Oder, der deutsch-polnische Grenzfluss war bis 1945 Kriegslinie, Schauplatz brutaler Kampfhandlungen.
Nach und nach brechen Schrecken und Verbrechen in die Erinnerungen, die die Tatziets und das Dorf durchlitten hatten; Hungertyphus und Diphterie, die Flüchtlinge, die es durch den Ort gespült hat und die hier ihre verstorbenen Verwandten begraben mussten. Die Vergewaltigungen, aus Angst vor den Russen schmierten sich Frauen Asche ins Gesicht und trugen Männerkleidung.

Erinnerungs- und Geschichtskasten

Vieles wurde verschwiegen, Vieles bleibt dem Erzähler auch heute unbeantwortet, auch die Frage, welche Schuld die Tatziets selbst im Krieg auf sich geladen haben?
Auf diese Weise entsteht ein ganz eigener Erinnerungs- und Geschichtskasten, den man so aus Jochen Schmidts früheren Büchern nicht kennt. Dass sich ausdauerndes „Wühlen in der Vergangenheit lohnt, um der Gegenwart Bedeutung zu geben“, das zeigt dieser so feinfühlige Roman.

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