Joachim Kalka: "Schatten und Schnee"

Stimmungsvoller Gedankenspaziergang

05:43 Minuten
Cover des Buchs "Schatten und Schnee" von Joachim Kalka. Es zeigt schattenhafte Skiläufer, die einen Hang herunterfahren.
© Berenberg

Joachim Kalka

Schatten und Schnee Berenberg Verlag, Berlin 2022

112 Seiten

24,00 Euro

Von Arno Orzessek · 19.12.2022
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Der neue Essay von Joachim Kalka verfolgt den Schatten und den Schnee in Kunst und Literatur. Von Lucky Luke bis „Citizen Kane“, von Goethe bis „Frau Holle“, von Demosthenes bis Karl May: ein echtes Lesevergnügen.
Viele Bücher vermitteln Erkenntnisse, die man irgendwann einmal vielleicht gut gebrauchen kann. "Schatten und Schnee" gehört eher nicht dazu. Dafür bietet das Buch feinsten Lektüregenuss. Der beginnt schon im ersten Absatz. Joachim Kalka zitiert Walter Benjamin, der ein Kind beschreibt, das tief in seine Lektüre versunken ist und irgendwann „über und über beschneit mit Gelesenem“ aufsieht.
Falls Sie ein Herz für Sprachkunst haben, müsste es jetzt ein bisschen höherschlagen. Tatsächlich stellt sich Kalka seine Leser so vor wie Benjamins Kind. Inhaltlich greift die Doppelstudie weit aus: Kalka untersucht die Bedeutung von Schatten und Schnee in Literatur, Film, Musik, Comic und Malerei.
Systematik und Vollständigkeit interessieren ihn nicht. Das Ergebnis ist wieder ein „Montageessay“ – ein Begriff, bei dem Googeln nicht weiterhilft. Er wird definiert durch Kalkas Bücher.

Schneller als der Schatten

„Was könnte enger sein als die Verbindung eines Schattens mit dem Gegenstand der ihn 'wirft' – mit, sagen wir, seinem Menschen?“ Scheinbar eine simple Frage. Aber versuchen Sie mal, rasch darauf zu antworten!
Kalka präsentiert einige Fälle, in denen die Verbindung zwischen Gegenstand und Schatten prekär wird. Albert von Chamisso hat in "Peter Schlemihl" die Trennung von Mensch und Schatten durchgespielt, J. M. Berrie in "Peter Pan".
Kalka nimmt auch Lucky Luke hinzu, der „schneller zieht“ als sein Schatten, Diogenes, dem der Schatten Alexanders die Sonne versperrte, die US-Radioserie „The Shadow“, Stalin-Gemälde, Spielbergs "Jurassic Park" und und und. Klingt nach wilder Hopserei, ist aber ein Gedankenspaziergang, dem man sich gern anschließt.

Geheimnisvolle Spuren

Denn Kalka verliert den Schatten, der die Fundstücke verbindet, nie aus den Augen. Er wandert mit ihm durch die Genres und Gattungen und streut hier und da Gelehrsamkeit ein, etwa zur Ästhetik des Film Noir. Akademisch wird der Tonfall nie.

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Doch ist Konzentration gefragt. Schon allein, um die handverlesenen Zitate auszukosten, die fast die Hälfte des Textes ausmachen, darunter viele Gedichte. Wie Peter Weiss in "Der Schatten des Körpers des Kutschers" einen Geschlechtsverkehr allein durch Beobachtung der Schatten beschreibt – dafür darf man eine Buchseite hergeben. Und das Beste kommt noch: der zweite, längere Teil, in dem es oft schneit und geheimnisvolle Spuren im Schnee sichtbar werden.

Schlittschuhläufer Goethe 

Dass der Schnee auf den Schatten folgt und nicht umgekehrt, könnte irritieren. Scheint doch die (kindliche) Reinheit und Frische als ein Hauptmerkmal des Schnees dem Schatten – nicht zuletzt des Todes – zeitlich-sinnhaft vorauszugehen. Aber die Irritation verliert sich, wenn Kalka neben der Schönheit die unheimlichen, destruktiven Eigenschaften von Eis und Schnee aufzeigt.
Für Goethe, der gern Schlittschuh lief, damals der neue Fun-Sport, war Schnee nur „eine erlogene Reinlichkeit“. Der Schneesturm in Stifters "Aus dem bayrischen Walde" reißt die Sprache selbst mit sich. In James Joyces' "The Dead" ist der Schnee die kalt rieselnde Signatur des Todes: Er deckt alles Individuelle zu.
"Schatten und Schnee" ist gedankenvoll, stimmungsvoll und frei von Kitsch. Sollte es winterlich sein, wenn Sie das Buch zur Hand nehmen, lesen Sie zuerst den zweiten Teil. Schatten gibt es auch im Sommer. 
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