Joachim Fest: "Die unbeantwortbaren Fragen - Gespräche mit Albert Speer"

Rezensiert von Joachim Scholl · 18.03.2005
Von 1966, als Albert Speer nach seiner 20-jährigen Haft aus dem Gefängnis kam, bis zu dessen Tod 1980 hat Joachim Fest den Architekten und nationalsozialistischen Politiker in Gesprächen nach seiner Vergangenheit befragt. Gleichzeitig erscheint von Margret Nisssen, der Tochter Speers, ein Buch, das man mit historischem Interesse wie Kopfschütteln liest.
Als Albert Speer am 30. September 1966 das Spandauer Gefängnis verließ, bot sich dem damaligen Fernseh-Journalisten Joachim Fest eine seltene Chance. Der Verleger Wolf Jobst Siedler fragte ihn, ob er bei der Herausgabe von Speers Memoiren mitarbeiten wolle? So entstand die Bekanntschaft mit einer der einflussreichsten und zugleich schillerndsten Personen des "Dritten Reiches". In mehrfacher Hinsicht war Speer eine Ausnahmeerscheinung in Hitlers Entourage: Klug und akademisch gebildet, aus gediegenen bürgerlichen Verhältnissen stammend, in Wesen, Manieren und Umgangsformen unterschied sich Speer deutlich von den primitiv-brutalen Charakteren eines Göring, Himmler oder Bormann. Er verkörperte, was es nach einem Wort des englischen Historikers Hugh Trevor-Roper eigentlich gar nicht gab: den "kultivierten Nazi".

An Speers außergewöhnlicher Persönlichkeit entzündeten sich die spannendsten Fragen: Wie konnte solch ein Mann die kriminellen Züge des Regimes übersehen? Welche Regungen begleiteten die katastrophale Entwicklung? Was wusste Speer vom Massenmord? Vor allem an dieser letzten Frage sind seine Gesprächspartner regelrecht gescheitert. In immer wieder neuen Variationen ist Speer ihr ausgewichen. Joachim Fest und Verleger Siedler haben sie hartnäckig und jahrelang gestellt -vergeblich.

" November 1968: Siedler fragte, wie Speer sich verhalten hätte, wenn er irgendwann, beispielsweise 1941, unwiderlegbare Beweise über die Verbrechen im Osten erhalten hätte. Wäre er bei Hitler vorstellig geworden? Hätte er seine Baupläne aufgegeben? Bei Bormann interveniert? (…) Speer schien einen Augenblick lang verwirrt und sagte: "Ich denke, nein." Dann: "Ich hätte solche Gräuelmeldungen, allen Beweisen zum Trotz, einfach nicht geglaubt. "

Minutiös hat Joachim Fest diese Gespräche in allen auch atmosphärischen Einzelheiten festgehalten, sie reichen bis ins Jahr 1980, als Speer in London überraschend starb. Die Notizen bildeten die Grundlage für Fests 1999 veröffentlichte Biographie, jetzt, in Buchform, zeigt das Protokoll vor allem das Ausmaß einer immens widersprüchlichen Psychologie: Fast gebetsmühlenhaft wiederholt Speer sein Schuldbekenntnis, im gleichen Atemzug verteidigt er den "Menschen" Hitler. Preist er die künstlerischen Visionen und empfiehlt die Lektüre von dessen "Kulturreden", wie Fest fassungslos notiert.

Zur Jahreswende 1944/45 hintertrieb Speer Hitlers berüchtigten "Nero-Befehl" der verbrannten Erde, um im April 1945 unter Lebensgefahr ins belagerte Berlin zu fliegen, um diesen "Verrat" zu gestehen und sich von Hitler zu verabschieden. Das sei für ihn, Speer, eine menschliche Selbstverständlichkeit gewesen. Und kurz vor Erscheinen seiner "Erinnerungen" fragt er seinen konsternierten Lektor, ob die deutsche Öffentlichkeit das Buch womöglich als Beweis von "Treulosigkeit" deuten könnte? Es sind diese Stellen, die den Leser frösteln lassen und vermutlich auch Joachim Fests hartes, distanziertes Urteil begründen.

" Speer war kein Held. Stattdessen war er etwas weit Beunruhigenderes: ein bornierter Idealist, der sich jeder überlegenen Kraft andiente. So fühlte Speer sich verpflichtet, einem als Verbrecher erkannten Zerstörer des eigenen Landes bis zuletzt eine zumindest persönliche Loyalität zu schulden. Der Abschiedsbesuch im Bunker war eine Schlüsselszene. Sie deckte, wie ich damals zu Siedler sagte, einen "deutschen Abgrund" auf. Zugleich machte die Bereitschaft, selbst einem Massenmörder gegenüber gewissen Konventionen einzuhalten, die hoffnungslose Unterlegenheit der vielen Figuren vom Typus Speers offenbar. Sie offenbarte eine der Bedingungen, die zu Hitler geführt und am Ende die Unfähigkeit bewirkt haben, von ihm loszukommen. "

Bald nach Speers Tod kamen eindeutige Dokumente zum Vorschein, die seine konkrete Verstrickung in die NS-Verbrechen belegten. Bitter notiert Joachim Fest, dass Speer " uns allen mit der treuherzigsten Miene von der Welt eine Nase gedreht" habe, und er, Fest, sei "nicht bereit, ihm das nachzusehen."

Wie viel man jedoch einem Menschen nachsehen kann, wenn man diesen als solchen erlebt, zeigt Margret Nissens Buch. Sie ist eines von sechs Kindern Albert Speers, 1938 geboren. Lange hat sie gezögert, sich der Geschichte ihrer Familie zu stellen. Zusammen mit den Journalistinnen Margit Knapp und Sabine Seifert hat Margret Nisssen nun einen Text erarbeitet, den man mit ebenso historischem Interesse wie gleichermaßen Kopfschütteln liest. Wie leben heranwachsende Kinder mit der Tatsache eines über zwanzig Jahre inhaftierten Vaters?

Margret ist acht, als Albert Speer verurteilt wird, und im Jahr seiner Entlassung eine erwachsene Frau von 28. Jetzt, mit 66, schildert sie den oft bedrückenden Alltag dieser Zeit, sie zitiert aus den Hunderten von Briefen, sie erzählt von Besuchen und einem allmählichen Wandel der Gefühle. Die kindliche, tief empfundene Liebe für den fürsorglichen, humorvollen, "tollen", weil so bedeutenden Papa wird nach seiner Entlassung auf eine harte Probe gestellt. Das Wiedersehen - 14 Tage will man ganz en famille sein - wird zum quälenden und vorzeitig abgebrochenen Desaster. Man sitzt sich fremd gegenüber, weiß nicht, was man reden soll.

So menschlich verständlich und nachfühlbar diese Situation nun sein mag, so frappierend ist jedoch das künftige Schweigen, das über Jahrzehnte, ja ein ganzes Leben lang anhält. Margret Nissen will kein braves Heimchen am Herde sein, sie studiert, sie reist, lebt mit ihrem Mann, einem Archäologen, im Irak und in den USA, sie erlebt bewusst die 68er Zeit, in der entschieden nach der Schuld der Väter gefragt wird. Dazu hätte die Tochter Speer alle mentalen Voraussetzungen. Doch sie will davon nichts wissen.

" Auch wenn es heute paradox erscheinen mag, es war trotz der Fixierung meines Vaters auf Gespräche über die Vergangenheit nicht so, dass in der Familie eine gemeinsame Reflexion darüber stattgefunden hätte. Vor allem gab es keine kritische Annäherung, und die wirklich heiklen Kerne dieses Themas wurden immer von allen Seiten ausgespart. Er hatte ja schon außerhalb der Familie alles gesagt. Wie sollten wir erwarten, dass er innerhalb der Familie etwas anderes sagen würde. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen herrschte Schweigen."

Es ist geradezu enervierend, mit welcher Ausdauer sich Margret Nissen diesem Tabu anscheinend auch jenseits der Familie fügt. Als professionelle Fotografin arbeitet sie für die Berliner Ausstellung "Topographie des Terrors". Bei Aufnahmen von Verbrechen liest sie die Begleittexte mit Absicht - nicht! 2004, zur Zeit der Abfassung ihres Buches, fährt sie auf den Obersalzberg, wo sie eine glückliche Kindheit verbrachte. Sie stößt dort auf ein Foto, das den Vater auf der Nürnberger Anklagebank zeigt.

" Ich bin durcheinander, fühle mich getroffen, verletzt, aufgewühlt. In einer Reihe mit anderen Kriegsverbrechern habe ich ihn bisher noch nie gesehen. Es ist ausgerechnet die Fotografie, die auch ich von ihm besitze und die ich früher manchmal auf meinem Schreibtisch aufgestellt hatte. Ich erschrecke darüber wie über etwas völlig Fremdes. "

Wohlgemerkt: Da ist Margret Nissen 66 Jahre alt. Wie oft muss sie vorher Augen und Ohren verschlossen haben? Das ist der eigentliche Schock dieses Buches, das auch jetzt nur eine Auseinandersetzung mit einem Trauma insoweit darstellt, als es, in bisweilen bestürzender Offenheit, darum bittet, doch zu akzeptieren, dass man sich eben nicht damit auseinander gesetzt hat. Was ist für uns Außenstehende daraus zu lernen? Vielleicht wie unfasslich die Kraft der Verdrängung wirken kann. Oder dass gerade in allernächster Nähe der Antworten jede Frage unmöglich scheint.

An einer Stelle seines Buches schreibt Joachim Fest über diesen Reflex des Verstummens. Speer habe ihn in Anspruch genommen wie die meisten Deutschen, die "gerade so viel "geahnt" hätten, um zu begreifen, dass es besser war, nichts zu "wissen".

"Joachim Fest:
"Die unbeantwortbaren Fragen - Gespräche mit Albert Speer"
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005"

"Margret Nissen:
Unter Mitarbeit von Margit Knapp und Sabine Seifert
"Sind Sie die Tochter Speer?"
Deutsche Verlagsanstalt, München 2005 "