Jesus in Oberhausen

Von Ulrike Gondorf · 20.11.2009
Was würde geschehen, wenn Christus heutzutage durch die Stadt ginge? Diese Fragen stellten sich der katalanische Regisseur Joan Anton Rechi und der Autor Lothar Trolle. Gemeinsam entwickelten sie die "Oberhausener Johannespassion", die am im Theater Oberhausen uraufgeführt wurde.
"Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten." So heißt es in der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Das Theater Oberhausen untersucht, ob diese Aussage auf heute zu übertragen wäre, was geschehen könnte, wenn Christus heutzutage durch die Stadt ginge. Der katalanische Regisseur Joan Anton Rechi hat gemeinsam mit dem Autor Lothar Trolle die "Oberhausener Johannespassion" entwickelt. Am Wochenende ist sie im Theater Oberhausen uraufgeführt worden.

Die Antwort, die die beiden Autoren auf die Frage geben, fällt ernüchternd aus. Nichts würde passieren, vielmehr nichts, was wir nicht schon kennen aus dem biblischen Bericht, den Bach vertont hat. Große Teile der Johannespassion sind in Oberhausen zu hören. Otto Beatus hat sie arrangiert für ein Quartett aus Saxofon, Klarinette, Cello und Klavier, und Bachs Musik behauptet sich glänzend in dieser Klanggestalt, beweist wieder einmal, dass sie in ihrer Substanz völlig unabhängig ist von Besetzungsfragen. Dazu kommt eine Sopranistin als Gesangssolistin, und die fünf Darsteller, vage assoziiert mit Figuren wie Maria Magdalena, Johannes und Judas, bringen Texte aus der Johannespassion, mal sprechend, mal rhythmisch deklamierend, gelegentlich singend.

Der katalanische Regisseur Joan Anton Rechi hat der Geschichte einen neuen Rahmen gegeben. Als ehemaliger Assistent von Herbert Wernicke hat er vermutlich in dessen Theatralisierung von barocker Kirchenmusik Vorbilder gefunden. Rechi führt uns in einen Gleistunnel unter dem Oberhausener Bahnhof. Geschäftig wimmeln die Passanten umher. Ein junger Mann fällt auf in der Menschenmenge: Zu Jeans und T-Shirt trägt er langes, in der Mitte gescheiteltes Haar. Und tatsächlich, mitten unter den eiligen Geschäftsleuten, Pendlern, Pennern wird er in ein weißes Gewand mit blauer Schärpe gehüllt, verwandelt sich im Nu in eine gipserne Kitschfigur, eine Projektionsfläche religiöser Sehnsüchte, die passiv, fast abwesend bleibt in der Geschichte, die nun ihren Lauf nimmt.

Es ist der aus der Bibel wohlbekannte Bericht von der Verhaftung, dem Verhör und der Kreuzigung Christi, wie ihn Johann Sebastian Bach in seiner Johannespassion komponiert hat. Dazu hat der Autor Lothar Trolle Texte geschrieben, die aus dem Alltag der Abgehängten gegriffen sind und sich in Namen, Straßen und Ortsangaben direkt auf Oberhausen beziehen. Es geht um vernachlässigte Kinder, sterbende Einkaufsstraßen, Arbeitslosigkeit und Armut. Könnte es Erlösung geben, wenn Christus bis Oberhausen käme?

Die Antwort, die Lothar Trolle und der Projekterfinder und Regisseur Joan Anton Rechi geben, ist eindeutig nein. Die biblische Geschichte, so scheint es, ist für sie eine Falle, beherrscht von einem unmenschlichen Determinismus. Christus muss sterben für das Erlösungswerk, das heißt, die Menschen müssen schuldig werden an seinem Tod. Und Judas, der bitterlich weinte über seinen Verrat, ist in seinem tragischen Widerspruch der eigentliche Held des Geschehens.

Michael Witte macht ihn auch zur stärksten Figur des Abends. Dieselbe Ausweglosigkeit und Absurdität, die die große Erlösungshoffnung scheitern lässt, prägt auch die kleinen, alltäglichen Höllen, aus denen die Figuren in Trolles Texten erzählen. Groß und heil ist nur die Erlösungssehnsucht und die utopische Kraft in Bachs Musik. Ein Abend, der sein wichtiges Thema nicht ganz präzis auf den Punkt bringt und in manchen Momenten unfertig wirkt, aber doch ein Abend von bewegender Traurigkeit.