Jerusalem

Revolution an der Klagemauer

Ein Ultraorthodoxer betet an der Klagemauer.
Ein Ultraorthodoxer betet an der Klagemauer. © picture-alliance / dpa / Atef Safadi
Von Lissy Kaufmann · 29.04.2016
Die israelische Organisation Women of the Wall kämpft seit 27 für die Gleichberechtigung von Frauen im Judentum. Für ihren Einsatz wurden sie belächelt, beschimpft – und verhaftet. Unterkriegen ließen sie sich nicht. Jetzt planen Sie eine Revolution: am heiligsten Ort der Juden.
Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Auch an Pessach beten die Women of the Wall wieder an der Klagemauer. Seit 27 Jahren kämpfen sie hier für Gleichberechtigung. Und in diesem Jahr auch für den traditionellen Priestergruß, den Birkat Kohanim.
Zum ersten Mal, so der Plan, sollten Priesterinnen den Gruß singen und die Gemeinde segnen. So, wie es die Männer traditionell an Chol Hamoed, den Pessachtagen, tun. Die Priester, Kohanim genannt, sind die Nachfahren der früheren Tempeldiener aus dem Stamm Aarons. Doch der Generalstaatsanwalt stoppte den Plan wenige Tage vorher auf Druck des ultraorthodoxen Rabbiners der Klagemauer.

Lautstarke Proteste orthodoxer Juden

"Wir mussten ein Dokument unterzeichnen, dass wir die Arme nicht zum Himmel strecken, nicht den Tallit über den Köpfen halten und den Priestergruß nicht sprechen. Wir sind hier in einem Käfig, wir dürfen keine Thora-Rollen mitbringen und mussten die Zahl der Teilnehmerinnen von 500 auf 200 verringern. Das ist drakonisch! Der Rabbiner der Klagemauer kann uns vielleicht dieses Jahr aufhalten, aber es wird hier irgendwann einen Priestergruß geben",
sagt Anat Hoffman. Die Mitgründerin der Women of the Wall, heute Anfang 60, mit blonden Haaren und einem wachen Blick, ist zur Leitfigur der Gruppe geworden. Sie ist auch nach Jahren der Auseinandersetzung nicht müde. So sind Frauen trotz des Verbots an die Klagemauer gekommen – zumindest für das reguläre Morgengebet. Doch allein die Ankündigung, die Segenszeremonie abhalten zu wollen, hat die Ultraorthodoxen aufgestachelt. Sie machen ihre Ablehnung an diesem Morgen lautstark deutlich.
Muss das sein, könnte man fragen. Hätten die Frauen nicht einfach warten können, bis sie ihren eigenen Gebetsbereich bekommen? Wir haben lange genug gewartet, sagt Anat.

Ein historischer Sieg

Dabei hatte die Regierung Ende Januar tatsächlich entschieden, dass sie ihren eigenen Gebetsplatz an der Klagemauer weiter südlich erhalten sollen. Einen Ort, an dem sie gleichberechtigt mit Männern beten und aus der Thora lesen dürfen. Die Umsetzung lässt noch auf sich warten. Dennoch gilt die Entscheidung als historischer Sieg.
Anat Hoffman kam dafür mit den anderen Frauen jahrelang an jedem Rosch Chodesch, dem ersten Tag im Monat des jüdischen Kalenders, zum Gebet an die Mauer. Mit Tallit und Tefillin. Sie wurde belächelt, beschimpft und verhaftet, haben Stunden in Verhandlungen gesessen und in Mikrofone gesprochen. In ruhigen Momenten erzählt sie, dass die größte Herausforderung aber viel persönlicher war.

"Manchmal finden die härtesten Kämpfe in der Küche statt"

"Die schweren Momente waren für mich nicht an der Mauer, vor Gericht, im Gefängnis oder im Angesicht der Gewalt. Schwere Momente hatte ich innerhalb meiner Familie, als sie dachte, das wäre Zeitverschwendung. Ich glaube, es geht vielen Frauen so, die für sozialen Wandel kämpfen. Manchmal finden die härtesten Kämpfe in der Küche statt, im Wohnzimmer, im Schlafzimmer. Manchmal ist es am schwersten, die Menschen, die einem am nächsten sind, davon zu überzeugen, dass sich der Kampf loht."
Vor allem ihre Tochter Tanya, heute 27 Jahre alt, konnte den Einsatz der Mutter nicht verstehen.
"Meine Tochter wollte mal einen Film machen 'Wie ich aufhörte, die Women of the Wall zu hassen, und begann, mit einer Mutter zu sprechen.' Aus ihrer Sicht hat der Kampf viel Zeit und Energie gekostet. Und ihr war es nicht wichtig."
Anat Hoffman geht es um ein größeres Ziel: um die Pluralität im Judentum, und darum, dass Frauen nicht aus religiösen Gründen benachteiligt werden. Als Geschäftsführerin des Israel Religious Action Centers hat sie mit einem Team von Anwälten viele Fälle vor Gericht gewonnen. Und eine Veränderung bewirkt: Die Ausgrenzung der Frauen sei auf dem Rückmarsch.

"Ausgeschlossen im Namen Gottes"

"Wir veröffentlichen jedes Jahr einen Report unter dem Titel: 'Ausgeschlossen im Namen Gottes.' Und sechs Jahre lang war der richtig dick, mit vielen Fällen, in denen Frauen in anderen Reihen anstehen, im Bus hinten sitzen nicht auf Bühnen auftreten und nicht im Radio sprechen sollten. Dieses Jahr aber veröffentlichen wir keinen Report. Weil es einfach nicht genug Material gibt.
In letzter Zeit haben sich auch andere, teils orthodoxe Frauengruppen gebildet. Wie "Lo Nivcharot, Lo Bocharot" übersetzt: "Wenn wir nicht gewählt werden können, wählen wir auch nicht." Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Frauen auch in die orthodoxen Parteien aufgenommen werden. Anat Hoffman sieht die Women of the Wall als Teil dieses Trends.
"Women of the Wall sind an der letzten Grenze, wir kämpfen am heiligsten Ort der Juden und fordern hier Gleichberechtigung."
Über die Jahre ist Anat zwar nicht ruhiger, aber kompromissbereiter geworden. Dass die Women of the Wall die Entscheidung für einen separaten Gebetsbereich mitgetragen haben, anstatt für Gleichberechtigung im bisherigen Bereich zu kämpfen, haben ein paar der Frauen als Niederlage empfunden. Doch für Anat hat das mehr mit Erfahrung und Weisheit zu tun:

Der Kampf geht weiter

"Ich denke, es ist ein Zeichen des Abriebs, dass man pragmatischer wird. Aber das Schöne an unserem Team ist ja, dass ständig neue ideologische Leute zu uns kommen, junge Frauen, die noch frisch sind. Aber ja, ich würde sagen, jedes Paar, das lange verheiratet ist, lernt irgendwann, pragmatischer zu sein. Man fragt sich: Will man verheiratet sein oder recht haben? Und dann sagt man sich: Vielleicht gebe ich dieses Mal nach. Obwohl ich weiß, dass ich recht habe. Und diese Weisheit lässt sich auch auf Organisationen übertragen."
Indiskutabel aber bleibt für Anat, dass auch Frauen den Priestergruß sprechen und die Gemeinde segnen können – auch an der Klagemauer. In diesem Jahr haben sie und anderen Frauen sich an die Entscheidung des Generalstaatsanwaltes gehalten. Doch sie werden weiter dafür kämpfen, dass es auch dafür irgendwann ein erstes Mal geben wird.