Jenseits von Palmen und Wüstensand
Maghreb - das Land des Westens. Weitab vom Zentrum der arabischen Zivilisation hat sich im nördlichen Afrika eine Region mit ganz eigener Kultur herausgebildet. Seit jeher stand sie in Austausch mit der westlichen Welt. Bis heute pflegen die drei Maghreb-Länder Marokko, Algerien und Tunesien den Austausch mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Autoren der Region wie Tahar Ben Jelloun, Yasmina Khadra und Asia Djebar setzen sich mit dieser Vergangenheit kritisch auseinander.
Ein paar Palmen sollten schon vorkommen im Roman eines maghrebinischen Schriftstellers. Auch gegen Wüste, Sonne und ein paar kräftig schnaubende Kamele wäre nichts einzuwenden. Und wenn auf denen dann noch ein paar Tuaregs säßen, die Abends, im Schatten der Dünen, Rast machen und sich die alten Geschichten der Vorfahren erzählten - dann wäre die Idylle perfekt. Als Leser wäre man zufrieden und könnte sich beglückwünschen, mal wieder in einem richtig guten Roman aus dem Orient geschmökert zu haben.
Das Problem ist, dass aus dem Maghreb, jedenfalls an solchen Erwartungen gemessen, nur richtig schlechte Literatur kommt. Von Palmen und Sonne wollen die Autoren nichts wissen, und die Tuaregs sind froh, wenn sie die Wüste in PS-starken Geländewagen durchqueren können anstatt auf störrischen Kamelen. Nein, mit Wüstenromantik haben Bürger und Autoren des Maghreb gleichermaßen wenig zu tun - schon weil ihnen für dergleichen schlicht die Zeit fehlt. In ökonomisch vergleichsweise armen, zumindest nicht ganz so wohlhabenden Ländern wie Marokko und Algerien, zu Teilen auch Tunesien, haben die Menschen Dringenderes zu tun. Zum Beispiel, an Geld zu kommen. Aber wie kommt man daran? Das ist eine Frage, die in der Literatur aller drei Länder immer wieder mal auftaucht, und auf die verschiedene Antworten gegeben wurden oder werden, etwa diese: Man prostituiert sich. Man wird kriminell. Man hat Beziehungen. Man wandert aus. Oder man bekommt eben kein Geld oder nur sehr wenig. Wer aber kein Geld hat, kommt ebenso leicht auf dumme Gedanken wie jemand, der zuviel hat. Womit das Thema des Fundamentalismus angesprochen werden, ein zentrales Problem aller drei Ländern, dem sich Autoren wie Tahar Ben Jelloun oder Yasmina Khadra auf ganz unterschiedliche Weise nähern. Das Phänomen des Fundamentalismus ist umso trauriger, als das Land die Region ja schon mal mit den Errungenschaften der Moderne gesegnet werden sollte. So zumindest erklärten es die Franzosen, die die maghrebinischen Länder rund 130 Jahre beherrschten oder zumindest "beschützten", wie die Bezeichnung "Protektorat" es andeutet. Doch statt Segen kamen Krieg und Gewalt. Assia Djebar wird von den Eroberungskriegen im 19. Jahrhundert erzählen, ebenso von späteren Versuchen der Franzosen, diese Ereignisse zu verschweigen oder wenigstens umzudeuten, so dass sich ihnen doch noch ein Sinn abgewinnen ließe. Und sie berichtet, wie ihre Literatur diese Versuche konterkariert, wie sie versucht, in ihren Romanen die zerbrochene algerische Identität wenigstens in ihren gröbsten Splittern zusammenzufügen. Wie schwer das ist, davon erzählt auch Albert Memmi, der in den 1950er Jahren einer der profiliertesten Vordenker für die Unabhängigkeit der kolonisierten Länder war und sich seitdem in immer neuen Romanen und Essays mit dem Thema auseinandersetzt.
Doch die Region verharrt nicht nur in der Rückschau, wie der junge marokkanische Autor Abdellah Taïa erkennen lässt. Als erster maghrebinischer Schriftsteller bekannte sich Taïa öffentlich zu seiner Homosexualität. Was dieser Tabubruch, was überhaupt die gleichgeschlechtliche Liebe in Marokko bedeutet, hat er in mehreren Romanen beschrieben. In ihnen berichtet er auch von einem modernen Marokko, von jungen Menschen, die mit der Popkultur groß wurden - und dennoch in einer immer noch ausgesprochen traditionellen Gesellschaft leben. Was es wiederum bedeutet, wenn europäische Frauen Männer aus diesem Kulturkreis heiraten, davon berichtet Cécile Oumhani in ihren einfühlsamen, impressionistisch flackernden Romanen. Die interkulturelle Liebe mag romantisch sein, jedenfalls zunächst. Das Problem ist nur, dass im Maghreb für Romantik keine Zeit bleibt. Weder für die der Wüste, noch für die der Liebe. Ein bisschen vielleicht, aber nicht zuviel. Man hat schließlich noch anderes zu tun. Was genau, davon berichtet diese "Lange Nacht der Maghrebinischen Literatur".
Tahar BenJelloun
Ben Jelloun wurde 1944 in Marokko geboren, lebt in Paris. Er gilt als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur des Maghreb, wurde 1987 mit dem Prix Goncourt für seinen Roman "Die Nacht der Unschuld" ausgezeichnet.
taharbenjelloun.org/
Wikipedia: Tahar Ben Jelloun
Tahar BenJelloun
Yemma - Meine Mutter, mein Kind
2007 Berlin Verlag
"Yemma - Meine Mutter, mein Kind"ist Ben Jellouns bewegende Erzählung von der Alzheimererkrankung seiner Mutter. "Ich habe meiner Mutter zu essen gegeben. Meiner Mutter, meinem Kind. Einen Löffel Milch mit Käse. Wie einem Kind, das mit geschlossenen Augen isst, und meine Hand zittert vor Rührung." Der hier seine an Alzheimer erkrankte Mutter füttert, ist Tahar Ben Jelloun. Und das Kind ist Lalla Fatma, seine alte Mutter, die mit einer Pflegerin zurückgezogen in ihrem Haus in Tanger lebt. Mal verwechselt sie ihn mit ihrem vor dreißig Jahren gestorbenen jüngeren Bruder. Dann mit ihrem ältesten Sohn Mustafa aus ihrer ersten Ehe mit fünfzehn. Oder sie sieht in ihm nur den kleinen kranken Tahar, den sie in Fes hätschelte. Oder beklagt sich, dass er sie seit seiner (!) Beerdigung nicht besucht hat. Dazwischen Momente von großer Klarsichtigkeit: Von ihrem Bett aus erinnert sie sich an ihre Jugend, ihre Ehen, die Hochzeitsfeste, die Vorbereitungen im Hamman. Eines Morgens bestellt sie Handwerker, die ihr Haus für die Beerdigung schmücken sollen. Dann wieder lacht sie und schminkt sich für ihre drei (verstorbenen) Ehemänner, die sie zum Essen erwartet. Lalla Fatma bevölkert ihr Haus mit Fantomen, Erinnerungen und Halluzinationen. Doch eines Tages bleiben auch die aus. Sie redet nur noch mit sich, singt leise vor sich hin, sagt nichts mehr. Ihr Blick ist leer. Und der Sohn hält ihre Hand, erzählt ihr von seiner Kindheit mit ihr, ihrer Schönheit als junger Mutter - bis auch diese Hautberührung zuviel ist, ihr unerträgliche Schmerzen bereitet.
Tahar BenJelloun
Verlassen
Roman.
2008 BVT Berliner Taschenbuch Verlag
Tanger verlassen - das ist die Obsession in den Köpfen einer ganzen Generation. Bei schönem Wetter sieht man hinüber zur spanischen Küste. Auch Azel träumt sich hinüber in die"Festung Europa". Nach einem Jurastudium hat er keine Aussicht auf einen Job. Er glaubt, einen sicheren Fluchtweg gefunden zu haben, doch die Hölle aus Armut, Korruption und Demütigung, die er in Marokko hinter sich lässt, ist nur das Spiegelbild der anderen Hölle, die ihn erwartet: Einsamkeit, Prostitution und der Verlust seiner Würde in der Emigration.
Yasmina Khadra, (Pseudonym für Mohammed Moulessehoul) (* 10. Januar 1955 in Kenadsa, Algerien) ist ein algerischer Schriftsteller, der im Exil in Frankreich lebt.
yasmina-khadra.com
Wikipedia: Yasmina Khadra
Yasmina Khadra
Die Sirenen von Bagdad
Roman.
2008 Nagel & Kimche
Erneut legt Yasmina Khadra einen packenden Polit-Thriller über die Logik des Terrorismus vor. In der Folge einer mitleidlosen Razzia des US-Militärs wird ein junger unbeteiligter Mann aus dem Irak tief gedemütigt und muss seine Familie und sein Heimatdorf verlassen. Er beschließt, sein Leben der Aufgabe zu widmen, den Westen tödlich zu treffen. Plastisch und einfühlsam erzählt Yasmina Khadra vom Leben der Menschen in einer ausweglosen Spirale aus zerstörter Ehre und Hass in einem Land, das vom Krieg gezeichnet ist.
Yasmina Khadra
Nacht über Algier
Roman.
2006 Aufbau-Verlag
Nach den Erfolgsromanen"Wovon die Wölfe träumen"und"Die Schwalben von Kabul"läßt Yasmina Khadra den unbestechlichen Kommissar Llob
hinter die Fassade einer sich selbst zerstörenden Gesellschaft blicken. Eindringlich schildert er die bedrückende Atmosphäre in Algier am Vorabend der blutigen Zusammenstöße mit den Fundamentalisten.
Kommissar Llob, ein glückloser, aber durch und durch integrer Polizeibeamter in Algier, möchte verhindern, dass die algerische Justiz einen gewalttätigen Psychopathen begnadigt. Gleichzeitig bereitet ihm sein junger Assistent Sorgen, der sich mit der Frau von Haj Thobane, einem der einflußreichsten Männer Algiers, eingelassen hat. Das Unglück läßt nicht lange auf sich warten: Schon bald schiebt Haj Thobane seinem Nebenbuhler einen Mord in die Schuhe. Llob kann sich die Umstände des Verbrechens nicht erklären. Zusammen mit der Journalistin Soria stürzt er sich in halsbrecherische private Ermittlungen, die ihn auf die Spur kaltblütiger Verbrechen der gesellschaftlichen Elite führen. Eine Entdeckung, die Llob lieber nicht gemacht hätte.
Hinter der kriminalistischen Suche nach Drahtziehern und Strohmännern deckt der Autor die Situation seines Landes zwischen Bürgerkrieg und Korruption, Angst und Terror, Manipulation und religiösem Fanatismus auf.
Assia Djebar
geboren 1936 in Algerien, Schriftstellerin, Historikerin, Filmemacherin, ist eine bedeutende Autorin des Maghreb. Auszeichnungen: 1996 Neustadt-Literaturpreis, 2000 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2006 Premio Grinzane Cavour für ihr Lebenswerk.
Wikipedia: Assia Djebar
marabout.de/djebar
Assia Djebar
Das verlorene Wort
2006 Unionsverlag
Ein Algerier kehrt nach 20 Jahren aus französischem Exil in sein Land zurück und ist hin- und hergerissen zwischen seiner französischen Erziehung und dem algerischen Alltag, wie er ihn dort erlebt.
Assia Djebar
Die Ungeduldigen
2000 Unionsverlag
Assia Djebar zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsschriftstellerinnen des Maghreb. In diesem Roman schildert sie am Beispiel Dalilas, einer arabischen Studentin aus bürgerlichem Haus, den Ausbruch islamischer Frauen aus der traditionellen Gesellschaft. Dalila drängt es mit aller Macht ins Leben. Sie lehnt sich gegen Familie und Tradition auf. Auch in ihrer Beziehung zu Selim, ihrer ersten Liebe, kämpft sie für ihr Recht auf Selbstbestimmung.
Assia Djebar
Die Frauen von Algier
1999 Unionsverlag
Nach dem Besuch in einem Harem malt Delacroix 1832 sein Meisterwerk "Frauen von Algier in ihrem Gemach", das einen Blick in eine verbotene Welt wirft. 1955, zu Beginn des Algerienkriegs, malt Picasso die Frauen von Algier auf seine Weise: als "Feuerträgerinnen" des Widerstands. Assia Djebar greift das Thema wieder auf und fixiert Bilder im Alltag von Frauen, die in einer Ära des Umbruchs an den starren Traditionen zuzweifeln beginnen. "Sie bricht alle Tabus und überschreitet die Grenzen, wenn sie die Erinnerung und den verborgenen Körper der Frau ans Licht bringt", schrieb die algerische Presse nach dem Erscheinen dieses Buches.
Albert Memmi
(* 15. Dezember 1920 in Tunis, Tunesien) ist ein französischer Schriftsteller und Soziologe tunesischer Herkunft, der in über 20 Büchern Dekolonisation, Rassismus und Emigration untersuchte sowie das Lebensgefühl der Entfremdung und Entwurzelung zur Sprache gebracht hat.
Wkipedia: Albert Memmi
Albert Memmi
Das kleine Glück
Zweiundfünfzig Betrachtungen.
1999 Insel, Frankfurt
Albert Memmi
Die Salzsäule
2002 Wagenbach
Albert Memmi erzählt seine eigene Geschichte: er blickt zurück, um seine Herkunft zu erkennen.
Sohn einer berberischen Mutter und eines jüdischen Vaters, erzogen in einem französischen Gymnasium, steht er zwischen armen Handwerkern und reichem Bürgertum, zwischen einer alten und einer modernen Welt.
Wird er die Gerüche, die Stimmungen, die Farben, wird er Tunis und die Personen seiner Kindheit hinter sich lassen, den Vater mit seinen Hustenanfällen, die tanzende Mutter, das schöne Mädchen Ginou - und ein neues Leben und eine neue Heimat finden?
Abdellah Taïa
(* 1973 in Salé) ist ein offen schwuler marokkanischer Schriftsteller und Journalist, der seit 1998 im selbst gewählten Exil in Paris lebt.
Wikipedia: Abdellah Taïa
Kultur heute: Protest gegen Homosexuellen-Hatz
Schriftsteller wehren sich gegen Diskriminierung
Cécile Oumhani, 1952 als Tochter belgisch-schottischer Eltern indischer Provenienz geboren, verbringt einen Teil ihrer Kindheit in Kanada, ist seit den frühen 1970ern durch Heirat Tunesien verbunden und heute Dozentin für englische Literatur an der Universität Paris 12 mit Schwerpunkt Postkolonialismus und weibliches Schreiben
Auszug aus dem Manuskript:
ERSTER SPRECHER: Der Maghreb. Wörtlich übersetzt: "Der Westen", der Ort, wo die Sonne untergeht. Auf geht sie im Osten, der auf Arabisch "mashriq" heißt. Darin steckt "sharaqa", "aufgehen, sich erheben, strahlen". Die Grundwurzel ist "sharq": "der Osten, der Orient". Im Westen aber geht die Sonne unter. Aber nicht nur die Sonne zieht in Richtung Westen. Auch die Menschen tun und taten es, vor allem seit dem 8. Jahrhundert nach Christus, als der Islam von der arabischen Halbinsel aus immer weiter nach Westen drang und schließlich, im 7. Jahrhundert, im Gebiet des heutigen Maghreb, ankam. "Rarraba" nach Westen gehen, auch dieses Wort birgt die Wurzel "r-r-b" (Mit Zäpchen-r, dann rollendem r), die für alles steht, was mit dem Westen zu tun hat.
ERSTE SPRECHERIN: Doch was ist dieser Westen aus der Sicht des Ostens? Auch das teilt die Sprache uns mit: eine unbekannte Region, ein fremdes Land. Das Verb "tarraraba" bedeutet "in die Fremde gehen", das Verb "irtaraba" wiederum "in der Fremde leben". Und in der Fremde wohnen teils merkwürdige Menschen: "istarraba" bedeutet im Arabischen "seltsam, merkwürdig finden". Und dorthin, in die Fremde, zieht es die Menschen von der Arabischen Halbinsel nicht. Im Grunde möchten sie zu Hause, in der Heimat bleiben. Der Westen ist ihnen fremd, wenn irgend möglich meiden sie ihn. So dass das auf dieselbe Wurzel "r -r-b" zurückgehende Wort "rurba" nicht nur "Fremde", sondern auch "Exil" heißt. Und dass es noch weiter in die Fremde, noch weiter in den Westen gehen kann, das deutet auch die "Algarve" an, jene Region im Süden Portugals, deren Namen auch diese arabische Wurzel zurückgeht.
ERSTER SPRECHER: Das heißt aber auch, dass man den Maghreb auch aus europäischer Sicht nicht ausschließlich als fremde Region verstehen kann. Nicht immer waren Europa und Afrika, Orient und Okzident ja durch ein Meer getrennt. Vor sieben Millionen Jahren sank der Meeresspiegel immer weiter ab, bis er schließlich vollständig vertrocknete. Zurück blieb eine gewaltige Salzwüste, auf der dann Afrika und Europa miteinander kollidierten, sich zu einer festen Landmasse verbanden. Tausende Jahre blieben die Kontinente vereint, bis über den Atlantik dann wieder neues Wasser in das Becken flossen. Seitdem sind Afrika und Europa wieder getrennt.
ERSTE SPRECHERIN: Doch in Verbindung standen sie weiter. Die Schifffahrt zwischen den beiden Kontinenten mochte gefahrvoll sein - doch immer zog es die Menschen von der einen auf die andere Seite des Ufers, ein ständiger Verkehr, über den das Mittelmeer gerade an der Meerenge von Gibraltar zur Drehscheibe der Kulturen wurde. Der Historiker Fernand Braudel, der große Chronist des Mittelmeeres, hat diesen Isthmus in seiner großen Chronik der mediterranen Welt beschrieben.
DRITTER SPRECHER : Im äußersten Westen des Mittelmeers befindet sich ein kleiner, autonomer Raum zwischen eng aneinander gerückten Landmassen, der dem Menschen leicht zugänglich ist: der mediterrane "Ärmelkanal". Eine eigene Welt zwischen der Straße von Gibraltar im Westen und jener Linie, die vom Kap Caxine (Kaschin) bis zum Kap de la Náo (Nau) reicht oder, gröber gesagt, von Valencia bis Algier. Die Durchfahrt ist in keiner Richtung einfach: nach Osten gerät man in den weiten Raum des westlichen Mittelmeeres; nach Westen in den noch weiteren Atlantik jenseits der Meerenge, deren Passage wegen häufiger Nebel, starker Strömungen und Sandbänke an den Küsten an sich schon ein Wagnis ist. Obendrein bedeutet eine Meerenge, ähnlich wie ein weit ins Meer hinausragendes Kap, immer auch eine Veränderung der Strömungen und Winde. In der Nord-Süd-Richtung dagegen ist der von Osten nach Westen langgestreckte Ärmel relativ leicht zu passieren. Für das Festland der iberischen und nordafrikanischen Welten ist er keine Schranke, sondern eine Art Fluss, der eher vereint als trennt, der Nordafrika und Iberien zu einer einzigen Welt zusammenschließt, zu einem "Bi-Kontinent".
ERSTER SPRECHER: In nicht mehr ganz so grauer Vorzeit dann formen sich die Grundlagen der heutigen Zivilisation. Ab dem 6. Jahrhundert vor Christus erobern die Römer immer größere Gebiete am nördlichen Ufer des Mittelmeeres. An seinem südlichen Ufer hatten sich die Phönizier ausgebreitet, die auf dem Gebiet des heutigen Tunesiens im 9. Jahrhundert die Stadt Karthago gründeten. Die Eroberung und Zerstörung dieser Stadt im Jahr 146 vor Christus bildete den Auftakt zur Romanisierung Nordafrikas, an die sich bald auch dessen Christianisierung anschloss. Die Kirchenväter Tertulian und Cyprian wurde beide in Karthago geboren, während der heilige Augustinus auf dem Gebiet des heutigen Algerien zur Welt kam. Bedeutende Ahnherren des Katholizismus waren also Afrikaner - Nordafrikaner.
ERSTE SPRECHERIN: Seit frühesten Zeiten hatte das Mittelmeer, "al bahr al mutawasit al abyad", "Das weiße mittlere Meer", wie die Araber es nennen, also mehr eine verbindende als eine trennende Funktion. Das blieb auch so, als seit Mitte des siebten nachchristlichen Jahrhunderts die soeben islamisierten Araber in den Maghreb eindrangen. Sie änderten die Kultur des Landes grundlegend: Nordafrika wurde muslimisch. Seitdem standen südliches und nördliches Mittelmeerufer sich immer wieder auch feindlich gegenüber. 711 bricht ein islamisches Heer von Marokko aus in das damals von den Westgoten beherrschte Spanien auf - der Beginn einer über 700 Jahre dauernden Herrschaft, die erst 1492, mit der Rückeroberung des letzten arabischen Königtums, desjenigen von Granada, endet. Viele Muslime brechen auf in Richtung Maghreb, aber auch die Juden verlassen das Land. Im Maghreb freut man sich über die Zuwanderer: Die jüdischen Einwanderer bereichern das Land mit ihren Fähigkeiten ungemein.
ERSTER SPRECHER: Über 300 Jahre später, ab 1830, erobern die Franzosen das Gebiet des heutigen Algeriens. Einige Jahre später wurde das Land der französischen Republik einverleibt. 1881 wurde Tunesien zum französischen Protektorat erklärt. Marokko fiel 1912 unter französische und spanische Herrschaft. Unabhängig wurden die Länder erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts wieder, nach zum Teil blutigen Kämpfen. Die Algerien tobte der Unabhängigkeitskrieg acht Jahre lang, von 1954 bis 1962.
ERSTE SPRECHERIN: Die Anrainerstaaten diesseits und jenseits des Meeres bilden eine nicht immer leichte Nachbarschaft. Das ist auch nicht erstaunlich, meint der tunesisch-französische Essayist und Schriftsteller Albert Memmi. Memmi, der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen berühmten Essay "Porträt des Kolonisierten" veröffentlichte und damit zu einer zentralen Gestalt der Unabhängigkeitsbewegungen nicht nur des Maghreb, sondern der gesamten Dritten Welt wurde. Über die Natur grenzüberschreitender Kulturkontakte macht er sich wenig Illusionen.
ZWEITER SPRECHER : Ich glaube, Zivilisationskontakte sind zunächst von Konflikten geprägt. Sie beeinflussen einander über Konflikte. Und vielleicht besteht die bedeutendste Leistung dieser Kontakte darin, die verschiedenen Kulturen miteinander zu versöhnen. Aber am Anfang steht immer der Konflikt. Eine der bedeutendsten Formen dieser Kontakte ist der Kolonialismus - er steht am Anfang vieler Kulturkonflikte. Ich selbst habe diesen konfliktträchtigen Kulturkontakt durchlebt. Als ich nach dem zweiten Weltkrieg nach Paris kam, wollte ich studieren, ich wollte die Stadt "erobern", wie man es damals nannte. Eingelebt und an die Stadt gewöhnt habe ich mich aber ganz langsam. Aber ich glaube, es ist die Art, nach der Kulturen in Kontakt miteinander treten.
Das Problem ist, dass aus dem Maghreb, jedenfalls an solchen Erwartungen gemessen, nur richtig schlechte Literatur kommt. Von Palmen und Sonne wollen die Autoren nichts wissen, und die Tuaregs sind froh, wenn sie die Wüste in PS-starken Geländewagen durchqueren können anstatt auf störrischen Kamelen. Nein, mit Wüstenromantik haben Bürger und Autoren des Maghreb gleichermaßen wenig zu tun - schon weil ihnen für dergleichen schlicht die Zeit fehlt. In ökonomisch vergleichsweise armen, zumindest nicht ganz so wohlhabenden Ländern wie Marokko und Algerien, zu Teilen auch Tunesien, haben die Menschen Dringenderes zu tun. Zum Beispiel, an Geld zu kommen. Aber wie kommt man daran? Das ist eine Frage, die in der Literatur aller drei Länder immer wieder mal auftaucht, und auf die verschiedene Antworten gegeben wurden oder werden, etwa diese: Man prostituiert sich. Man wird kriminell. Man hat Beziehungen. Man wandert aus. Oder man bekommt eben kein Geld oder nur sehr wenig. Wer aber kein Geld hat, kommt ebenso leicht auf dumme Gedanken wie jemand, der zuviel hat. Womit das Thema des Fundamentalismus angesprochen werden, ein zentrales Problem aller drei Ländern, dem sich Autoren wie Tahar Ben Jelloun oder Yasmina Khadra auf ganz unterschiedliche Weise nähern. Das Phänomen des Fundamentalismus ist umso trauriger, als das Land die Region ja schon mal mit den Errungenschaften der Moderne gesegnet werden sollte. So zumindest erklärten es die Franzosen, die die maghrebinischen Länder rund 130 Jahre beherrschten oder zumindest "beschützten", wie die Bezeichnung "Protektorat" es andeutet. Doch statt Segen kamen Krieg und Gewalt. Assia Djebar wird von den Eroberungskriegen im 19. Jahrhundert erzählen, ebenso von späteren Versuchen der Franzosen, diese Ereignisse zu verschweigen oder wenigstens umzudeuten, so dass sich ihnen doch noch ein Sinn abgewinnen ließe. Und sie berichtet, wie ihre Literatur diese Versuche konterkariert, wie sie versucht, in ihren Romanen die zerbrochene algerische Identität wenigstens in ihren gröbsten Splittern zusammenzufügen. Wie schwer das ist, davon erzählt auch Albert Memmi, der in den 1950er Jahren einer der profiliertesten Vordenker für die Unabhängigkeit der kolonisierten Länder war und sich seitdem in immer neuen Romanen und Essays mit dem Thema auseinandersetzt.
Doch die Region verharrt nicht nur in der Rückschau, wie der junge marokkanische Autor Abdellah Taïa erkennen lässt. Als erster maghrebinischer Schriftsteller bekannte sich Taïa öffentlich zu seiner Homosexualität. Was dieser Tabubruch, was überhaupt die gleichgeschlechtliche Liebe in Marokko bedeutet, hat er in mehreren Romanen beschrieben. In ihnen berichtet er auch von einem modernen Marokko, von jungen Menschen, die mit der Popkultur groß wurden - und dennoch in einer immer noch ausgesprochen traditionellen Gesellschaft leben. Was es wiederum bedeutet, wenn europäische Frauen Männer aus diesem Kulturkreis heiraten, davon berichtet Cécile Oumhani in ihren einfühlsamen, impressionistisch flackernden Romanen. Die interkulturelle Liebe mag romantisch sein, jedenfalls zunächst. Das Problem ist nur, dass im Maghreb für Romantik keine Zeit bleibt. Weder für die der Wüste, noch für die der Liebe. Ein bisschen vielleicht, aber nicht zuviel. Man hat schließlich noch anderes zu tun. Was genau, davon berichtet diese "Lange Nacht der Maghrebinischen Literatur".
Tahar BenJelloun
Ben Jelloun wurde 1944 in Marokko geboren, lebt in Paris. Er gilt als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur des Maghreb, wurde 1987 mit dem Prix Goncourt für seinen Roman "Die Nacht der Unschuld" ausgezeichnet.
taharbenjelloun.org/
Wikipedia: Tahar Ben Jelloun
Tahar BenJelloun
Yemma - Meine Mutter, mein Kind
2007 Berlin Verlag
"Yemma - Meine Mutter, mein Kind"ist Ben Jellouns bewegende Erzählung von der Alzheimererkrankung seiner Mutter. "Ich habe meiner Mutter zu essen gegeben. Meiner Mutter, meinem Kind. Einen Löffel Milch mit Käse. Wie einem Kind, das mit geschlossenen Augen isst, und meine Hand zittert vor Rührung." Der hier seine an Alzheimer erkrankte Mutter füttert, ist Tahar Ben Jelloun. Und das Kind ist Lalla Fatma, seine alte Mutter, die mit einer Pflegerin zurückgezogen in ihrem Haus in Tanger lebt. Mal verwechselt sie ihn mit ihrem vor dreißig Jahren gestorbenen jüngeren Bruder. Dann mit ihrem ältesten Sohn Mustafa aus ihrer ersten Ehe mit fünfzehn. Oder sie sieht in ihm nur den kleinen kranken Tahar, den sie in Fes hätschelte. Oder beklagt sich, dass er sie seit seiner (!) Beerdigung nicht besucht hat. Dazwischen Momente von großer Klarsichtigkeit: Von ihrem Bett aus erinnert sie sich an ihre Jugend, ihre Ehen, die Hochzeitsfeste, die Vorbereitungen im Hamman. Eines Morgens bestellt sie Handwerker, die ihr Haus für die Beerdigung schmücken sollen. Dann wieder lacht sie und schminkt sich für ihre drei (verstorbenen) Ehemänner, die sie zum Essen erwartet. Lalla Fatma bevölkert ihr Haus mit Fantomen, Erinnerungen und Halluzinationen. Doch eines Tages bleiben auch die aus. Sie redet nur noch mit sich, singt leise vor sich hin, sagt nichts mehr. Ihr Blick ist leer. Und der Sohn hält ihre Hand, erzählt ihr von seiner Kindheit mit ihr, ihrer Schönheit als junger Mutter - bis auch diese Hautberührung zuviel ist, ihr unerträgliche Schmerzen bereitet.
Tahar BenJelloun
Verlassen
Roman.
2008 BVT Berliner Taschenbuch Verlag
Tanger verlassen - das ist die Obsession in den Köpfen einer ganzen Generation. Bei schönem Wetter sieht man hinüber zur spanischen Küste. Auch Azel träumt sich hinüber in die"Festung Europa". Nach einem Jurastudium hat er keine Aussicht auf einen Job. Er glaubt, einen sicheren Fluchtweg gefunden zu haben, doch die Hölle aus Armut, Korruption und Demütigung, die er in Marokko hinter sich lässt, ist nur das Spiegelbild der anderen Hölle, die ihn erwartet: Einsamkeit, Prostitution und der Verlust seiner Würde in der Emigration.
Yasmina Khadra, (Pseudonym für Mohammed Moulessehoul) (* 10. Januar 1955 in Kenadsa, Algerien) ist ein algerischer Schriftsteller, der im Exil in Frankreich lebt.
yasmina-khadra.com
Wikipedia: Yasmina Khadra
Yasmina Khadra
Die Sirenen von Bagdad
Roman.
2008 Nagel & Kimche
Erneut legt Yasmina Khadra einen packenden Polit-Thriller über die Logik des Terrorismus vor. In der Folge einer mitleidlosen Razzia des US-Militärs wird ein junger unbeteiligter Mann aus dem Irak tief gedemütigt und muss seine Familie und sein Heimatdorf verlassen. Er beschließt, sein Leben der Aufgabe zu widmen, den Westen tödlich zu treffen. Plastisch und einfühlsam erzählt Yasmina Khadra vom Leben der Menschen in einer ausweglosen Spirale aus zerstörter Ehre und Hass in einem Land, das vom Krieg gezeichnet ist.
Yasmina Khadra
Nacht über Algier
Roman.
2006 Aufbau-Verlag
Nach den Erfolgsromanen"Wovon die Wölfe träumen"und"Die Schwalben von Kabul"läßt Yasmina Khadra den unbestechlichen Kommissar Llob
hinter die Fassade einer sich selbst zerstörenden Gesellschaft blicken. Eindringlich schildert er die bedrückende Atmosphäre in Algier am Vorabend der blutigen Zusammenstöße mit den Fundamentalisten.
Kommissar Llob, ein glückloser, aber durch und durch integrer Polizeibeamter in Algier, möchte verhindern, dass die algerische Justiz einen gewalttätigen Psychopathen begnadigt. Gleichzeitig bereitet ihm sein junger Assistent Sorgen, der sich mit der Frau von Haj Thobane, einem der einflußreichsten Männer Algiers, eingelassen hat. Das Unglück läßt nicht lange auf sich warten: Schon bald schiebt Haj Thobane seinem Nebenbuhler einen Mord in die Schuhe. Llob kann sich die Umstände des Verbrechens nicht erklären. Zusammen mit der Journalistin Soria stürzt er sich in halsbrecherische private Ermittlungen, die ihn auf die Spur kaltblütiger Verbrechen der gesellschaftlichen Elite führen. Eine Entdeckung, die Llob lieber nicht gemacht hätte.
Hinter der kriminalistischen Suche nach Drahtziehern und Strohmännern deckt der Autor die Situation seines Landes zwischen Bürgerkrieg und Korruption, Angst und Terror, Manipulation und religiösem Fanatismus auf.
Assia Djebar
geboren 1936 in Algerien, Schriftstellerin, Historikerin, Filmemacherin, ist eine bedeutende Autorin des Maghreb. Auszeichnungen: 1996 Neustadt-Literaturpreis, 2000 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2006 Premio Grinzane Cavour für ihr Lebenswerk.
Wikipedia: Assia Djebar
marabout.de/djebar
Assia Djebar
Das verlorene Wort
2006 Unionsverlag
Ein Algerier kehrt nach 20 Jahren aus französischem Exil in sein Land zurück und ist hin- und hergerissen zwischen seiner französischen Erziehung und dem algerischen Alltag, wie er ihn dort erlebt.
Assia Djebar
Die Ungeduldigen
2000 Unionsverlag
Assia Djebar zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsschriftstellerinnen des Maghreb. In diesem Roman schildert sie am Beispiel Dalilas, einer arabischen Studentin aus bürgerlichem Haus, den Ausbruch islamischer Frauen aus der traditionellen Gesellschaft. Dalila drängt es mit aller Macht ins Leben. Sie lehnt sich gegen Familie und Tradition auf. Auch in ihrer Beziehung zu Selim, ihrer ersten Liebe, kämpft sie für ihr Recht auf Selbstbestimmung.
Assia Djebar
Die Frauen von Algier
1999 Unionsverlag
Nach dem Besuch in einem Harem malt Delacroix 1832 sein Meisterwerk "Frauen von Algier in ihrem Gemach", das einen Blick in eine verbotene Welt wirft. 1955, zu Beginn des Algerienkriegs, malt Picasso die Frauen von Algier auf seine Weise: als "Feuerträgerinnen" des Widerstands. Assia Djebar greift das Thema wieder auf und fixiert Bilder im Alltag von Frauen, die in einer Ära des Umbruchs an den starren Traditionen zuzweifeln beginnen. "Sie bricht alle Tabus und überschreitet die Grenzen, wenn sie die Erinnerung und den verborgenen Körper der Frau ans Licht bringt", schrieb die algerische Presse nach dem Erscheinen dieses Buches.
Albert Memmi
(* 15. Dezember 1920 in Tunis, Tunesien) ist ein französischer Schriftsteller und Soziologe tunesischer Herkunft, der in über 20 Büchern Dekolonisation, Rassismus und Emigration untersuchte sowie das Lebensgefühl der Entfremdung und Entwurzelung zur Sprache gebracht hat.
Wkipedia: Albert Memmi
Albert Memmi
Das kleine Glück
Zweiundfünfzig Betrachtungen.
1999 Insel, Frankfurt
Albert Memmi
Die Salzsäule
2002 Wagenbach
Albert Memmi erzählt seine eigene Geschichte: er blickt zurück, um seine Herkunft zu erkennen.
Sohn einer berberischen Mutter und eines jüdischen Vaters, erzogen in einem französischen Gymnasium, steht er zwischen armen Handwerkern und reichem Bürgertum, zwischen einer alten und einer modernen Welt.
Wird er die Gerüche, die Stimmungen, die Farben, wird er Tunis und die Personen seiner Kindheit hinter sich lassen, den Vater mit seinen Hustenanfällen, die tanzende Mutter, das schöne Mädchen Ginou - und ein neues Leben und eine neue Heimat finden?
Abdellah Taïa
(* 1973 in Salé) ist ein offen schwuler marokkanischer Schriftsteller und Journalist, der seit 1998 im selbst gewählten Exil in Paris lebt.
Wikipedia: Abdellah Taïa
Kultur heute: Protest gegen Homosexuellen-Hatz
Schriftsteller wehren sich gegen Diskriminierung
Cécile Oumhani, 1952 als Tochter belgisch-schottischer Eltern indischer Provenienz geboren, verbringt einen Teil ihrer Kindheit in Kanada, ist seit den frühen 1970ern durch Heirat Tunesien verbunden und heute Dozentin für englische Literatur an der Universität Paris 12 mit Schwerpunkt Postkolonialismus und weibliches Schreiben
Auszug aus dem Manuskript:
ERSTER SPRECHER: Der Maghreb. Wörtlich übersetzt: "Der Westen", der Ort, wo die Sonne untergeht. Auf geht sie im Osten, der auf Arabisch "mashriq" heißt. Darin steckt "sharaqa", "aufgehen, sich erheben, strahlen". Die Grundwurzel ist "sharq": "der Osten, der Orient". Im Westen aber geht die Sonne unter. Aber nicht nur die Sonne zieht in Richtung Westen. Auch die Menschen tun und taten es, vor allem seit dem 8. Jahrhundert nach Christus, als der Islam von der arabischen Halbinsel aus immer weiter nach Westen drang und schließlich, im 7. Jahrhundert, im Gebiet des heutigen Maghreb, ankam. "Rarraba" nach Westen gehen, auch dieses Wort birgt die Wurzel "r-r-b" (Mit Zäpchen-r, dann rollendem r), die für alles steht, was mit dem Westen zu tun hat.
ERSTE SPRECHERIN: Doch was ist dieser Westen aus der Sicht des Ostens? Auch das teilt die Sprache uns mit: eine unbekannte Region, ein fremdes Land. Das Verb "tarraraba" bedeutet "in die Fremde gehen", das Verb "irtaraba" wiederum "in der Fremde leben". Und in der Fremde wohnen teils merkwürdige Menschen: "istarraba" bedeutet im Arabischen "seltsam, merkwürdig finden". Und dorthin, in die Fremde, zieht es die Menschen von der Arabischen Halbinsel nicht. Im Grunde möchten sie zu Hause, in der Heimat bleiben. Der Westen ist ihnen fremd, wenn irgend möglich meiden sie ihn. So dass das auf dieselbe Wurzel "r -r-b" zurückgehende Wort "rurba" nicht nur "Fremde", sondern auch "Exil" heißt. Und dass es noch weiter in die Fremde, noch weiter in den Westen gehen kann, das deutet auch die "Algarve" an, jene Region im Süden Portugals, deren Namen auch diese arabische Wurzel zurückgeht.
ERSTER SPRECHER: Das heißt aber auch, dass man den Maghreb auch aus europäischer Sicht nicht ausschließlich als fremde Region verstehen kann. Nicht immer waren Europa und Afrika, Orient und Okzident ja durch ein Meer getrennt. Vor sieben Millionen Jahren sank der Meeresspiegel immer weiter ab, bis er schließlich vollständig vertrocknete. Zurück blieb eine gewaltige Salzwüste, auf der dann Afrika und Europa miteinander kollidierten, sich zu einer festen Landmasse verbanden. Tausende Jahre blieben die Kontinente vereint, bis über den Atlantik dann wieder neues Wasser in das Becken flossen. Seitdem sind Afrika und Europa wieder getrennt.
ERSTE SPRECHERIN: Doch in Verbindung standen sie weiter. Die Schifffahrt zwischen den beiden Kontinenten mochte gefahrvoll sein - doch immer zog es die Menschen von der einen auf die andere Seite des Ufers, ein ständiger Verkehr, über den das Mittelmeer gerade an der Meerenge von Gibraltar zur Drehscheibe der Kulturen wurde. Der Historiker Fernand Braudel, der große Chronist des Mittelmeeres, hat diesen Isthmus in seiner großen Chronik der mediterranen Welt beschrieben.
DRITTER SPRECHER : Im äußersten Westen des Mittelmeers befindet sich ein kleiner, autonomer Raum zwischen eng aneinander gerückten Landmassen, der dem Menschen leicht zugänglich ist: der mediterrane "Ärmelkanal". Eine eigene Welt zwischen der Straße von Gibraltar im Westen und jener Linie, die vom Kap Caxine (Kaschin) bis zum Kap de la Náo (Nau) reicht oder, gröber gesagt, von Valencia bis Algier. Die Durchfahrt ist in keiner Richtung einfach: nach Osten gerät man in den weiten Raum des westlichen Mittelmeeres; nach Westen in den noch weiteren Atlantik jenseits der Meerenge, deren Passage wegen häufiger Nebel, starker Strömungen und Sandbänke an den Küsten an sich schon ein Wagnis ist. Obendrein bedeutet eine Meerenge, ähnlich wie ein weit ins Meer hinausragendes Kap, immer auch eine Veränderung der Strömungen und Winde. In der Nord-Süd-Richtung dagegen ist der von Osten nach Westen langgestreckte Ärmel relativ leicht zu passieren. Für das Festland der iberischen und nordafrikanischen Welten ist er keine Schranke, sondern eine Art Fluss, der eher vereint als trennt, der Nordafrika und Iberien zu einer einzigen Welt zusammenschließt, zu einem "Bi-Kontinent".
ERSTER SPRECHER: In nicht mehr ganz so grauer Vorzeit dann formen sich die Grundlagen der heutigen Zivilisation. Ab dem 6. Jahrhundert vor Christus erobern die Römer immer größere Gebiete am nördlichen Ufer des Mittelmeeres. An seinem südlichen Ufer hatten sich die Phönizier ausgebreitet, die auf dem Gebiet des heutigen Tunesiens im 9. Jahrhundert die Stadt Karthago gründeten. Die Eroberung und Zerstörung dieser Stadt im Jahr 146 vor Christus bildete den Auftakt zur Romanisierung Nordafrikas, an die sich bald auch dessen Christianisierung anschloss. Die Kirchenväter Tertulian und Cyprian wurde beide in Karthago geboren, während der heilige Augustinus auf dem Gebiet des heutigen Algerien zur Welt kam. Bedeutende Ahnherren des Katholizismus waren also Afrikaner - Nordafrikaner.
ERSTE SPRECHERIN: Seit frühesten Zeiten hatte das Mittelmeer, "al bahr al mutawasit al abyad", "Das weiße mittlere Meer", wie die Araber es nennen, also mehr eine verbindende als eine trennende Funktion. Das blieb auch so, als seit Mitte des siebten nachchristlichen Jahrhunderts die soeben islamisierten Araber in den Maghreb eindrangen. Sie änderten die Kultur des Landes grundlegend: Nordafrika wurde muslimisch. Seitdem standen südliches und nördliches Mittelmeerufer sich immer wieder auch feindlich gegenüber. 711 bricht ein islamisches Heer von Marokko aus in das damals von den Westgoten beherrschte Spanien auf - der Beginn einer über 700 Jahre dauernden Herrschaft, die erst 1492, mit der Rückeroberung des letzten arabischen Königtums, desjenigen von Granada, endet. Viele Muslime brechen auf in Richtung Maghreb, aber auch die Juden verlassen das Land. Im Maghreb freut man sich über die Zuwanderer: Die jüdischen Einwanderer bereichern das Land mit ihren Fähigkeiten ungemein.
ERSTER SPRECHER: Über 300 Jahre später, ab 1830, erobern die Franzosen das Gebiet des heutigen Algeriens. Einige Jahre später wurde das Land der französischen Republik einverleibt. 1881 wurde Tunesien zum französischen Protektorat erklärt. Marokko fiel 1912 unter französische und spanische Herrschaft. Unabhängig wurden die Länder erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts wieder, nach zum Teil blutigen Kämpfen. Die Algerien tobte der Unabhängigkeitskrieg acht Jahre lang, von 1954 bis 1962.
ERSTE SPRECHERIN: Die Anrainerstaaten diesseits und jenseits des Meeres bilden eine nicht immer leichte Nachbarschaft. Das ist auch nicht erstaunlich, meint der tunesisch-französische Essayist und Schriftsteller Albert Memmi. Memmi, der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen berühmten Essay "Porträt des Kolonisierten" veröffentlichte und damit zu einer zentralen Gestalt der Unabhängigkeitsbewegungen nicht nur des Maghreb, sondern der gesamten Dritten Welt wurde. Über die Natur grenzüberschreitender Kulturkontakte macht er sich wenig Illusionen.
ZWEITER SPRECHER : Ich glaube, Zivilisationskontakte sind zunächst von Konflikten geprägt. Sie beeinflussen einander über Konflikte. Und vielleicht besteht die bedeutendste Leistung dieser Kontakte darin, die verschiedenen Kulturen miteinander zu versöhnen. Aber am Anfang steht immer der Konflikt. Eine der bedeutendsten Formen dieser Kontakte ist der Kolonialismus - er steht am Anfang vieler Kulturkonflikte. Ich selbst habe diesen konfliktträchtigen Kulturkontakt durchlebt. Als ich nach dem zweiten Weltkrieg nach Paris kam, wollte ich studieren, ich wollte die Stadt "erobern", wie man es damals nannte. Eingelebt und an die Stadt gewöhnt habe ich mich aber ganz langsam. Aber ich glaube, es ist die Art, nach der Kulturen in Kontakt miteinander treten.