Jenseits von Lederhose und Alphorn

Vorgestellt von Alexander Schuller |
Bei Bayern denken die meisten Leute an Berge, Bier und Lederhose. Dass die bayerische Geschichte auch durch einen starken Freiheitsdrang geprägt war, weiß kaum jemand. In seinem Buch "Bayerische Enziane - Ein Heimatbuch" wirft Egon Günther einen Blick zurück und klärt uns über die kommunistische Vergangenheit des Freistaats auf.
"Von Bayern wird häufig ein rein alpenländisches Klischee mit eisgepanzerten Bergspitzen, Almen und Wilderern, Lederhosen und Dirndln, einem melodischen Zusammenklang von Jodeln und Kuhglocken vermittelt…" (März, Peter – Die Bundesländer. 50 Jahre Bundesrepublik.)

Was Bayern ist, das weiß also jeder. Die besonders gebildeten Zeitungsleser wissen aber auch: Beckenbauer und Pisa, Industriepolitik und Bayreuther Festspiele, Hitler-Putsch und Oktoberfest. Dass der Papst nicht nur Deutscher, sondern Oberbayer ist, nehmen die Leute zur Kenntnis, aber doch mit Kopfschütteln. Ein stiller, gebildeter und reflektierter Mann, das kann doch kein Bayer sein – auch wenn sein makelloses Italienisch eine anrührend bayerische Klangfarbe hat. Mit der Parole "Wir sind Papst" ist auch der normale Bürger am Ende seiner Bayern-Bildung. Den Namen des Grafen Maximilian von Montgelas, dem Begründer der ersten konstitutionellen Monarchie auf deutschem Boden oder von Kurt Eisner, dem Begründer der ersten anarchistischen Räterepublik auf der Welt hat wahrscheinlich nur die Pisa-Elite gehört. In anderen Worten: Bayern ist ein - offensichtliches - Geheimnis, ein Projektionsschirm. Bayern zum Selbstbasteln. Von dieser Sorte ist auch das Buch Bayerische Enziane von Egon Günther. Der ist ein geradezu rasender Liebhaber Bayerns, seines eigenen Bayerns. Für Günther ist Bayern der Hort, die Hymne, das Heiligtum des Anarchismus. Günther ist ein Zerrissener, zerrissen zwischen seiner Liebe zu dem lieblichen, barocken, katholischen Bayern und seiner Leidenschaft für die Leidenden und Empörten.

"Die Projektion eines bestimmten, nahezu erdachten Landstrichs – der Chiemgau, das in einem besonderen Sinne bairische Inntal, die weiten Wellen des Pfaffenwinkel und Fünfseenlandes bis an den Rand der oft blauschwarz schimmernden Höhen vor der azurnen Glasmauer des Gebirges – wird durchquert von Gestalten, die es uns angetan haben. Es sind Flüchtlinge, Verschleppte und Migranten, Verschwörer und widerwillige Rebellen, Geschlagene oder Hoffende, Agitatoren und Renegaten. Sie kommen irgendwoher und gehen irgendwohin, manche in ein ungewisses Schicksal."

Um es platt zu sagen: Günther bastelt ich ein kommunistisches Bayern. Das ist absurd, aber nicht ganz. Es ist nämlich auch ganz erhellend. Es fokussiert auf ein Bayern, das für die deutsche Moderne zu großer Bedeutung heranreifen sollte – wie immer man diese deutsche Moderne bewertet. Die Bayern sind und waren schon immer anders, anarchischer als andere deutsche Stämme, sie dachten und denken auch heute noch anders - auch wenn sie nur noch selten in Wadenstrümpfen und mit Stilett in der Lederhose auftreten. Der bayerische Freiheitsdrang hat Geschichte. Lange vor der Räterepublik fand schon im Jahre 1705 "Die erste Revolution der Neueren Geschichte ... in Bayern statt" (Wuermeling, Henric – 1705. München, Langenmüller, 2005). Politische, ästhetische und sexuelle Revolutionäre, Jugendbewegung und Expressionismus schufen sich im München der Jahrhundertwende um 1900 ein wahres Treibhausklima. Fanny von Reventlow lebt alle Lüste und alle Leiden der sexuell befreiten Frau in der Münchner Öffentlichkeit. Wedekind löst mit seiner Lulu in München ein Erdbeben aus, und Thomas Mann schreibt seine Buddenbrooks. Die ersten Notizen zum Prinzip Hoffnung macht Ernst Bloch in Weilheim. Stefan Georges Biographie kreist um München, und der bürgerliche Bertold wird in München zum literarischen Bertolt Brecht.

Insofern ist die Übertreibung der "Bayerischen Enziane" längst fällig und ihre Paradoxie zugleich Ausdruck der Schwierigkeit, sich auf Bayern einen Reim zu machen.

"Wer jemals an einem fahlen Wintertag vom Notkar her kommend nach Ettal hinabgestiegen ist und sich, aus der äußeren Leere und Kargheit tretend, jählings unter den bemalten Kuppen im Prunk der Klosterkirche wiederfand, weiß, was ich meine. Er erlebt die bergende und zugleich erhebende Illusion des Raumes, einer sakralen Höhle. Solch ein Raum ist zugleich eingeschlossen in und ausgeschlossen von einer Welt, in der für gewöhnlich alltäglich gelitten und an Festtagen gefeiert und mitunter – in der Übersteigerung – revolutioniert, verfolgt, gefoltert und erschossen wird. In deren als lieblich gepriesenen Winkeln Lehrgänge für green berets im bereits vorhandenen Gelände von SS-Junkerschulen stattfanden, weiß gegen rot, kaum wahrgenommen vor Roßkopf und Benediktenwand, verdrängt wie die wichtigste Vergangenheit des Landes."

Das Buch handelt vor allem vom Widerstand der bayerischen Arbeiter und Intellektuellen gegen den Faschismus und dem, was Günther unter Faschismus subsumiert. Dabei ist ihm Oskar Maria Graf natürlich eine wichtige Referenz, jener Oskar Maria Graf, der in der Emigration in New York vorzugsweise mit der "Kurzn", mit der knielangen Lederhose also spazieren ging. Aber auch Wilhelm Hoegner, der spätere Ministerpräsident in Bayern, wird als aufrechter bayerischer Antifaschist gefeiert, der gegen Feigheit in der eigenen Partei zu kämpfen hat.

"Die Veröffentlichung von Hoegners Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik wurde 1937 vom Lektor des Exil-SPD-Verlages abgelehnt; das Buch erschien erst 40 Jahre später unter dem Titel "Flucht vor Hitler"…"

Günther liebt die Bayern, weil er sie als das Volk des Antifaschismus sieht, sehen will. Das ist ziemlich blind, aber blind vor Liebe ist schöner als blind vor Hass. Hier handelt es sich um Liebe. Das wird ganz deutlich in dem von Günther zitierten Gedicht von D.H. Lawrence, der auch ähnlich wie T.S. Eliot in Bayern seine ideale Heimat suchte.

"Nicht jeder hat Enziane im Haus
im weichen September, am stillen, traurigen Michaelitag.
Bayrische Enziane, groß und dunkel, dunkel vor allem,
sie verdunkeln den Tag wie Fackeln mit dem qualmen-
den Blau aus Plutos Glut, gerippte, aufrechte Höllen-
blumen mit ihren Dunkelflammen aus Blau,
zu flachen Spitzen gebogen vom schweren
weißen Lufthauch des Tages..."

Egon Günther: Bayerische Enziane - Ein Heimatbuch
Edition Nautilus, Hamburg