Jenseits von Heldenmythen

Vorgestellt von Klaus Schroeder |
John Lee Anderson vergleicht in seinem Buch verschiedene Guerilla-Gruppen. Dabei gelingt es ihm, jenseits der von den Akteuren und ihren Sympathisanten in die Welt gesetzten Heldenmythen das ebenso banale wie erlebnisreiche Alltagsleben von selbsternannten Revolutionären im Untergrund oder in "befreiten Gebieten" anschaulich zu schildern.
Rudi Dutschke und seine Genossen lasen mit Begeisterung Frantz Fanons Buch "Die Verdammten dieser Erde", in dem dieser die Notwendigkeit gewaltsamer antikolonialer Revolutionen propagiert hatte, und sie diskutierten Möglichkeiten des bewaffneten Kampfes auch in den Metropolen des westlichen Imperialismus.

Im Mittelpunkt stand dabei der sagenumwobene moderne Partisan, der Guerillero, der für seine Ideale weder Tod noch Teufel scheut. In der Person Che Guevaras, der bewaffnete Revolutionäre als die höchste Form des Menschen bezeichnete, versinnbildlichte sich später diese Figur für nachfolgende Revoltegenerationen.

Die Realität sieht indes anders aus: Die Aufständischen stehen oftmals denjenigen, die sie bekämpfen, in Brutalität und Menschenverachtung in nichts nach, sind Terroristen und errichten, wie in Kambodscha, Afghanistan und Iran, Schreckensregime, die die gestürzten Vorgängerregierungen um ein Vielfaches an Mord und Terror übersteigen. Außerdem: Che Guevara war ein Anhänger Stalins und unerbittlicher Feind bürgerlicher Freiheiten.

Doch darum geht es dem Autor John Lee Anderson in seinem Buch "Guerillas. Töten für eine bessere Welt" nicht, denn er möchte vor allem die Innenseite von Guerillagruppen durchleuchten. Hierzu verbrachte er zwischen 1988 und 1992 einige Zeit bei aufständischen Gruppen, und zwar bei den Mudschaheddin in Afghanistan, den Karen in Burma, den Polisario in der Westsahara, den FMLN in El Salvador und bei einer Gruppe palästinensischer Jugendlicher im Gaza-Streifen.

Der Autor beschreibt ihr alltägliches Leben im Untergrund oder in "befreiten Gebieten", benennt ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Dabei gelingt es ihm, jenseits der von den Akteuren und ihren Sympathisanten in die Welt gesetzten Heldenmythen das ebenso banale wie erlebnisreiche Alltagsleben von selbsternannten Revolutionären anschaulich zu schildern. Anderson legt offen, was schon Minderjährige bewegt, sich diesen Gruppen anzuschließen, für welche Ziele sie kämpfen und vor allem, welche Rolle die Gewalt spielt.

"In dieser ‚anderen Welt’ ist die Präsenz von Waffen keine Anomalie, sondern sie bestimmt das Dasein. Kinder werden geboren, wachsen auf und werden erzogen im Strudel des Krieges. Guerilleros sind Menschen, die in ständiger Abwehr eines Gegners leben, der sie gerne besiegen möchte, sie leben nach ihren eigenen Gesetzen und Glaubenssätzen, überliefern ihre eigenen Geschichten und Legenden – und schreiben damit Geschichte. "

Gemeinsam ist allen Guerillabewegungen die Verbreitung von Ursprungsmythen, mit denen sie ihr Töten rechtfertigen und ihren Nachwuchs rekrutieren. Unterschiedlich sind ihre Ziele – während die einen wie die Untergrundbewegung in El Salvador für eine vermeintlich bessere und sozial gerechte Welt kämpfen, wollen andere wie die Polisario oder die Karen einen eigenen Staat auf einem von anderen besetzten Territorium errichten. Einmal in den Sog der Guerilla geraten, entsteht in den unterschiedlichen Gruppen eine Eigendynamik, die den einzelnen Guerillero zwingt, sich der Bewegung unterzuordnen.

Wie der Autor in seinen Reportagen eindrucksvoll schildert, entscheiden sie sich für ein Leben, "in dem wenig gewiss ist, außer die ständige Nähe von Einsamkeit, Hunger, Krankheit und Tod. Jeder und jede hat sich einem bewaffneten Kampf verschrieben mit dem Ziel, die gemeinsamen Ideale von sozialer Gerechtigkeit und neuem politischen und ökonomischen System für ihre Länder zu erreichen. Dieser Wille, sich selbst für ein höheres Ideal zu opfern – das ist es, was die Guerilla ausmacht. "

Die von Anderson besuchten Gruppen konnten jedoch über Jahre hinweg den bewaffneten Kampf nur führen, weil sie von ausländischen Mächten unterstützt und instrumentalisiert wurden. Dies interessiert den einfachen Kämpfer nicht: Er befolgt die Anordnungen seiner Führer, auch wenn das Hinrichtungen von Andersgläubigen und "Kollaborateuren" zur Folge hat, wie das Beispiel der Mudschaheddin in Afghanistan und der Terroristen in Palästina zeigt. Schon bevor die Aufständischen die Macht ergreifen, sind die zukünftigen Terrorstrukturen in Umrissen erkennbar. Leider erwähnt der Autor diese Tendenz nur am Rande und ohne eine klare Linie zwischen den Dimensionen des Guerillakampfes und späteren Terrorregimen zu ziehen.

"Dieser Zwang zu einem Balanceakt zwischen Unabhängigkeit und der Abhängigkeit von einem Förderer ist eine Erfahrung, die Guerillakämpfer überall machen. Aber in Afghanistan trieben die Supermächte das Maß an Zerstörung und Blutzoll durch den Einsatz von Scud- und Stinger-Raketen sowie Mig-Kampfbomber in Konflikten, die ansonsten lokale Angelegenheiten gewesen wären, die man mit Gewehren geregelt hätte, in neue grauenhafte Dimensionen. "

Während sich in den vier anderen Regionen seit Anfang der neunziger Jahre die Konflikte verändert haben oder die Aufständischen besiegt wurden, ist die Situation in Palästina weiter eskaliert. Die jugendlichen Aufständischen kämpfen nun nicht mehr wie seinerzeit mit Steinen gegen die Israelis, sondern morden unter Preisgabe ihres eigenen Lebens. Ihre Landsleute, die unter dem Verdacht der Kollaboration stehen, werden von ihnen ohne große Umschweife ermordet. Auch diese Entwicklung schildert Anderson nur, bewertet sie aber kaum.

Doch trotz dieser Schwächen, die wahrscheinlich Resultat des zeitweiligen Zusammenlebens auf engstem Raum sind, eröffnet das Buch den Blick auf Welten, die dem Leser im Westen weitgehend verschlossen bleiben. Für den Autor kämpfen Guerilleros im Glauben, dass es Dinge gibt, für die es sich zu sterben lohnt, und für die Verwirklichung von Idealen, die sie für größer halten als sich selbst. Diese Schlussfolgerung muss der Leser nicht teilen. Vielleicht sind die jungen Männer auch nur Verführte, die auf dem Altar totalitärer Ideologien für das Machtstreben ihrer Führer geopfert werden.

Kommt es schließlich zur Niederschlagung der Aufständischen oder zu Kompromissen mit den Herrschenden, hat der einzelne Guerillero Schwierigkeiten, sich wieder in das normale Leben zu integrieren, denn Gewalt und Krieg wurden zu seinem Lebensstil, zu seinem way of life, wie es Anderson treffend charakterisiert.

John Lee Anderson: Guerillas. Töten für eine bessere Welt
List-Verlag/Berlin