Jenseits des Frontalunterrichts

Rezensiert von Georg Gruber |
Was manche Pädagogen abfällig als "Kuschelpädagogik" bezeichnen, erklärt die Lehrbeauftragte für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Fee Czisch in ihrem Buch "Kinder können mehr" zum erfolgreichen Konzept. Die ehemalige Grundschullehrerin setzt auf die Neugier und die Fantasie der Kinder.
"Menschen, die am besten speichern, wenn sie zuhören, und bereit und fähig sind, auswendig zu lernen, sind unsere Superkinder und -schüler; die etwas anderes bräuchten, sind die Schlechten. Das ist völlig absurd, kontraproduktiv und ungerecht. "

Fee Czisch hat mit "Kinder können mehr" ein Plädoyer geschrieben für eine kindgerechtere Schule, eine Schule, in der nicht Noten und abfragbares Wissen im Mittelpunkt stehen, sondern die Jungen und Mädchen selbst: Ihre Neugier, ihre Fantasie, ihre Stärken.

Eigentlich trivial. Sie ist damit auch nicht die erste, will es auch gar nicht sein, bezieht sich auf reformpädagogische Ansätze, auf Montessori- und Waldorfpädagogik und auf die Laborschule Bielefeld, in der schon seit über 30 Jahren neue Unterrichtsformen ausprobiert werden.

Natürlich hat sich auch die Regelschule in den vergangenen Jahrzehnten verändert, die Klassen wurden kleiner, die Lehrer offener für neue Unterrichtsmethoden. Aber, es gibt Konstanten, die doch an den meisten Schulen anzutreffen sind: Frontalunterricht, Sitzenbleiben, Leistungsdruck, spätestens ab der 3. Klasse, wenn Noten immer wichtiger werden, weil mit ihnen Entscheidungen fürs Leben verbunden sind: Mit den Noten kannst du aufs Gymnasium, du nur auf die Realschule, du bleibst auf der Hauptschule.

Viele Eltern, Lehrer, Politiker, sehen das als normal und richtig an: So ist eben das Leben, eine Konkurrenzkampf und die Schule darf deshalb auch kein geschützter Raum sein.

"Die allgegenwärtige - offene oder versteckte - Botschaft an die Schüler lautet: Nur wer die "richtige" Note bringt, ist etwas wert. Und was nicht benotet wird, ist nichts wert. Was keine Note bringt, wird sie schließlich nicht mehr interessieren, nach dem Motto: Was nichts einbringt, mache ich nicht. So wollten wir unsere Kinder doch nicht erziehen. Oder doch?"

Die Regelschule - in den Augen von Fee Czisch ein System, das zu viele Verlierer produziert.

"Wie sie es schaffen sollen, weiter neugierig zu sein, offen auf andere zuzugehen, sich selbst und anderen zu vertrauen, danach wird nicht gefragt."

Sie machte als Lehrerin ihre eigene Schulreform, baute ihren Unterricht vollständig um, zum Missfallen der Schulbehörden, aber mit Rückendeckung der Schulleitung.
Sie ersetzte wirklichkeitsferne Lehrbücher durch ansprechende Arbeitsblätter und Materialien, führte Wochenpläne, Freiarbeit und Selbstkontrolle der Schüler ein. Exkursionen und Experimente statt Leistungsdruck.

Und sie brach mit einem Grundprinzip der Regelschule: Dort sollen alle zur gleichen Zeit das Gleiche können, unabhängig davon, ob das die einen über- und die anderen unterfordert. Bei ihr durfte jedes Kind nach seinem eigenen Tempo lernen. Fehler sind wichtig im Lernprozess, etwas vor dem man keine Angst haben braucht. Das Ergebnis: Mehr Eigenverantwortlichkeit der Kinder, die, so ihre Erfahrung, freiwillig und gerne lernen.

Dieser freiere Ansatz stellt die Lehrer vor andere Anforderungen, sie müssen beobachten: Wo stehen die Schüler? Wer braucht gerade Hilfe? Wo kann der Stärkere dem Schwächeren helfen? Wie kann man ihn motivieren?
Fee Czisch veränderte auch den Lernort, das Klassenzimmer, holte die Welt in die Schule, Pflanzen, ein Aquarium, Teppiche, eine gemütliche Leseecke.

"Weil Lernen wehtun muss, kann man nicht mit ansehen, dass Kinder auf dem Sofa liegend lesen oder rechnen, sich aneinander kuscheln, wenn sie einander Gedichte aufsagen. Ich verteidige meine Kuschelpädagogik, weil ich genau davon überzeugt bin: Zufriedene, entspannte, glückliche Kinder entwickeln sich emotional, sozial und intellektuell besser als gestresste. ‚Gelobt sei, was hart macht’ hat nichts gebracht."

"Die Schule neu denken" - eine alte Forderung, die immer noch aktuell ist. Fee Czisch hat einen anregenden Werkstattbericht geschrieben. Inzwischen ist sie Lehrbeauftragte für Grundschulpädagogik und - Didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ein Buch für Politiker, die glauben, Kinder könnten nur mit Notendruck und Rotstift zum Lernen gebracht werden, für Lehrer, damit sie sich selbst überprüfen und vielleicht einmal etwas anderes versuchen, und auch für Eltern, damit sie wissen, was ihre Kinder glücklicher machen könnte: Kuschelpädagogik.

Fee Czisch: Kinder können mehr. Anders lernen in der Grundschule
Kunstmann Verlag, 234 Seiten, 2005