Jennifer Lucy Allan: „Das Lied des Nebelhorns. Eine Klang- und Kulturgeschichte“

Das laute Dröhnen der Zivilisation

05:54 Minuten
Cover des Buchs „Das Lied des Nebelhorns. Eine Klang- und Kulturgeschichte“ von Jennifer Lucy Allan.
© mare

Jennifer Lucy Allan

Aus dem Englischen von Rudolf Mast

Das Lied des Nebelhorns. Eine Klang- und KulturgeschichteMare, Hamburg 2022

336 Seiten

24,00 Euro

Von Günther Wessel  · 08.04.2022
Audio herunterladen
120 Dezibel: So laut ist ein Nebelhorn. Sein Dröhnen ist ohrenbetäubend und körperlich erfahrbar. Zugleich verspricht es Sicherheit, wie die englische Musikwissenschaftlerin Jennifer Lucy Allen in ihrer faszinierenden Kulturgeschichte des Nebelhorns erzählt.
Vor neun Jahren packte Jennifer Lucy Allan die Begeisterung für diese Schalltrichter. Ein Konzert dreier Blechbläserensembles an der englischen Küste endete mit dem brüllenden Einsatz eines Nebelhorns, dessen Klang schließlich röchelnd verstummte. Eine Tonfolge, die die Musikwissenschaftlerin seither nicht mehr loslässt.
Allan, die sich selbst als Liebhaberin schräger Klänge verortet, ist immer auf der Suche nach Ungehörtem, das ihr Gefühlsleben verändert. Nun hat sie eine Kulturgeschichte des Nebelhorns vorgelegt. Sie interessiert sich vor allem für den Klang, weniger für dessen Technik und Erfindung. Meist wird diese dem Kanadier Robert Foulis um 1850 zugeschrieben, der allerdings nie ein Patent dafür anmeldete.

Ein rettendes Klavier

Foulis sei im Nebel am Strand spazieren gegangen und habe dank des weithin klingenden Klavierspiels seiner Tochter den Weg zurück nach Hause gefunden, heißt es: Allan bezweifelt zwar den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung, nimmt sie aber als Beleg für die emotionale Kraft des Nebelhorn-Klangs.
Diesen charakterisiert sie zunächst als Geräusch voller Melancholie, die Verlorenheit auf dem Ozean widerspiegelnd. Doch sie korrigiert sich im Laufe des Buches: Es sei ein Sound des Trostes und der Zivilisation – ein Geräusch, das einen sicheren Hafen verspricht.
Allen folgt dem Klang und dessen Geschichte. Sie findet Aufzeichnungen darüber, dass 1873 neun Monate lang verschiedene Arten von Signalen für Schiffe getestet wurden. Schließlich schien das Nebelhorn die ideale Lösung zu sein – obwohl es unmöglich ist, sich nur an dessen Klang zu orientieren. Sie trifft Menschen, die den Klang als krankmachenden Krach empfinden, und berichtet von Musikern wie John Cage, Anthony Braxton oder van Morrison, die ihn in ihre Kompositionen einbauten.

Meisterin der Abschweifung

Nebenher taucht die Autorin tief in die Geschichte der Seefahrt und der Küstensicherung ein. Sie schreibt über Kolonialismus und eingeschleppte Pflanzen, sie besucht Leuchttürme und Nebelhörner auf den britischen Inseln, reist auf die Shetlandinseln und nach San Francisco und beschreibt, wie sich London bis in die 1950er-Jahre in Nebel und giftigen Smog einhüllte.
Das alles in einem klaren, melodischen Tonfall, einer Sprache voller Rhythmus – hervorragend übersetzt von Rudolf Mast – mit klugen Einfällen zu Klang und Musik, einem Blick für Details und auch für sich selbst und ihre Nebelhorn-Obsession.
Heute verfügen Schiffe über GPS und Radar, und kein modernes Schiff verliert sich noch im Nebel. Der technische Fortschritt hat Nebelhörner überflüssig gemacht, ihr Ton verschwindet.
Die Küste verliert so eines ihrer prägendsten Geräusche und damit auch die konkrete Erinnerung an ein Zeitalter der Industrie- und Seefahrtsgeschichte: So gesehen ist der Klang des Nebelhorns heute voller Melancholie und Nostalgie.
Mehr zum Thema