Jennifer Clement: "Gun Love"

Kindheit auf der Rücksitzbank

Jennifer Clement: "Gun Love". im Hintergrund eine Trailor Park Siedlung in Texas (Montage)
Mit klugem Blick eine Wirklichkeit erfunden, die erschreckt: Jennifer Clements Roman "Gun Love" spielt in einer Wohnwagensiedlung. © Buchcover: Suhrkamp, Hintergrundbild H.Wilhelmy / Picture Alliance
Von Gabriele von Arnim · 25.01.2019
Ein Mädchen wächst in den USA im Auto auf. Die Mutter bringt ihr trotz der beengten Verhältnisse sogar bei, stilvoll Tee zu servieren. Dann gerät die kleine heile Welt im Trailer-Park ins Wanken – und mit ihr die Autorin von "Gun Love".
Ein kleines Mädchen wächst in einem Auto auf, einem Mercury Topaz, der mit platten Reifen in einer verkommenen, fast verlassenen Wohnwagensiedlung steht – gleich hinter einer giftigen Müllkippe.

Erziehung im Auto

Pearl lebt mit ihrer Mutter zusammen, die als Putzfrau in einem Veteranenkrankenhaus arbeitet und einst andere Zeiten kannte. Reich und verwöhnt aufgewachsen, ist sie als 16-Jährige mit ihrem unehelichen Baby ausgerissen und hier im Nirgendwo gestrandet.
Ein paar feine Teller hat sie mitgebracht, Gläser und Perlen. Und sie bringt dem Mädchen im Auto bei, wie man einen Tisch deckt und wie man Tee serviert. Sie ziehen im Mercury immer die Schuhe aus, haben ihre Zahnbürsten im Handschuhfach, Klamotten in Einkaufstüten, Lebensmittel im Kofferraum.
Und mitten hinein in diesen Mutter-Tochter-Einklang dringt eines Tages der Mann mit der schmeichelsüßen Stimme, dem die sonst so seelenkluge Mutter verfällt. Die Kleine wird aus ihrem Zuhause geworfen. Mutter und Freund brauchen das Auto für sich. Und sie brauchen es oft.

Von der Gesellschaft nicht wahrgenommen

Clement beschreibt aus der Perspektive eines wachen, zunächst unschuldigen Kindes die Situation derjenigen, die wir heute gern als "abgehängt" bezeichnen. Die von der Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen werden. Und doch genau wie alle ihre Sehnsüchte, ihre Kraft und ihre Gefühle haben.
Die Zärtlichkeit, die Mutter und Tochter füreinander empfinden, die Fürsorge, die Heiterkeit zwischen den beiden ist so zart und filigran erzählt, dass man nicht beim Jugendamt sein und beurteilen möchte, ob ein Kind so aufwachsen darf.
Liebe ist eben unabhängig von Haus und Hof und Garten. Wenn sie da ist, lebt sie auch auf zwei Autositzen und einer Rückbank. Mitten in einer Waffenwelt.
Alle haben sie Waffen. Auch der ach so gottesfürchtige Pfarrer. Er bittet den Herrn um Frieden und die Menschen darum, Gott ihre Waffen zu bringen. Und so hat er alsbald ein nettes Arsenal beisammen, das er lukrativ über dunkle Kanäle in den Handel bringt. Die Waffen für Gott füttern nun die Gewalt unter den Menschen.

Verloren trotz Bett und Badezimmer

Eines Tages geschieht ein Unglück. (Details seien hier nicht verraten.) Pearl wird vom Jugendamt mitgenommen und in ein freundliches Haus gebracht, in dem sie ein richtiges Bett hat und ein Badezimmer – aber sie will hier nicht sein.
Und nicht nur unsere Protagonistin fühlt sich verloren, auch Clement gelingt es hier nicht, die Beunruhigung des Kindes in einem beruhigten Alltag spürbar zu machen. Da gerät ihr mancher Kitschsatz in den Text.

Waffen erzählen ihre Geschichte

Pearl flieht mit Hilfe von Waffenhändlern und wird zwischen Taschen voller Sturmpistolen, Halb- und Vollautomatikgewehren, Karabinern, Schnellfeuerwaffen und Flinten über die mexikanische Grenze gebracht. Währenddessen erzählen die geschmuggelten Waffen dem Mädchen ihre Geschichten.
Clement hat mit klugem Blick eine Wirklichkeit erfunden, die erschreckt, weil sie so alltagsnah erscheint. Der Trailer-Park vor allem mit seinen abgehalfterten, kriminellen und liebenswürdigen Verlierern der Gesellschaft gibt Einblick in eine Welt, die vorschnell abzuurteilen nach dieser Lektüre nicht mehr so leicht sein wird.

Jennifer Clement: "Gun Love".
Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
251 Seiten, 22 Euro

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