Jedes 68 ist anders
Von Lutz Rathenow · 21.02.2008
Eigentlich bündelten sich 1968 zwei Reformbewegungen, die nichts miteinander zu tun hatten und sich doch auf vielfältige Weise beeinflussten: der von Prag ausgehende prinzipielle Erneuerungsversuch des Realsozialismus durch die tschechische Partei – und eine westeuropäische Mischung aus Pop-Kultur, politischen Reformen und linksradikalen Revolutionssehnsüchten.
Im DDR-Bürger vereinigte sich dies auf spezielle Weise, je nachdem, was für eine Art DDR-Bürger er war. Einige fühlten sich als Bundesdeutsche im Zölibat einer DDR-Existenz. Andere Intellektuelle und Parteimitglieder, keineswegs strikt getrennte Gruppen, knüpften dagegen eher Hoffnungen an den innerparteilichen tschechischen Reformprozess. Ihr 68 war die Vorstellung von einer allmählichen Änderung des Realsozialismus in Trippelschritten. Gebannt schauten auch die Ungarn in den tschechischen Westen. Als Dubcek in Prag abgesetzt wurde, ging, gaben die reformbereiten ungarischen Genossen den Russen die Schuld und fühlten sich in ihrem 56erTrauma bestätigt. Die ostdeutschen Genossen bevorzugten in der Mehrheit das Gefühl, die Tschechen wären alles zu schnell angegangen und seien somit nicht unschuldig an der provozierten Niederschlagung des Reformkurses. Andere in Ungarn und der DDR vollzogen eher eine stille Vereinigung mit den 68ern im Westen. In Budapest kam der Schriftsteller Dalos ins Gefängnis, ihm wurde vorgeworfen, ein Maoist zu sein. In Jena nahm die städtische Staatsmacht die privat gegründete und einige Wochen lang agierende Black-Panther-Party nicht wirklich ernst. Kaum ein DDR-Bürger hätte sich ihrer Forderung nach Abschaffung des Privateigentums und der Bevorzugung der Farbigen als bessere Menschen freiwillig angeschlossen. Vom Ost-68 blieb nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen nach einem frühlingshaften Aufschwungsrausch somit ein depressiver Spätsommerkater.
Die West-68er-Bewegung erreichte in kleinen Erfahrungsdosen auch die Ostblockstaaten, aber jeden auf andere Weise. In der DDR waren der Roman "Hinter Glas" des Franzosen Robert Merle und der amerikanische Film "Blutige Erdbeeren" Riesenerfolge, die nicht vorhandene eigene politische Erfahrungen und nicht präsente Kunstwerke ersetzen mussten. Überall wurde Menschen verhaftet, an meiner Schule ein Pennäler, weil er eine tschechische Fahne mit Trauerflor getragen hatte. Im Grunde genommen frustrierte das Ende in Prag. Die Revolte in Paris und Westberlin gab dagegen Hoffnung, irgendwie reagierten die im Westen den Frust im Osten gleich mit ab. Der Westen lenkte vom Widerstand in der DDR ab und führte zu ihm hin.
Der Normalbürger zeigte für die beiden 68 wenig Interesse. Mit den west-demonstrierenden Studenten hätte er gern getauscht, um sich in der Bundesrepublik für Westgeld ausbeuten zu lassen. Anders als Dubcek und Genossen traute er nach dem Einmarsch der Roten Armee 1945, dem 17. Juni 1953, Ungarn 1956 und dem Mauerbau 1961 dem Realsozialismus keine Reformfähigkeit mehr zu. In Rumänien aber hieß 68: ein Regierungschef, der sich später als übelster Diktator des Ostblocks entpuppen sollte, bietet der Sowjetunion die Stirn und verweigert den Einmarsch in Prag. Nie wieder war die Kommunistische Partei Rumäniens so beliebt wie 1968 und junge kritische Autoren traten überall im Land in sie ein. In Polen gab es andere Proteste der Arbeiter und Studenten und eine antijüdische Diskriminierungswelle. In Bulgarien schienen die Studenten vor allem an der Sex-Welle samt Anschauungsmaterial in Form von Zeitschriften interessiert. Ein Wissenschaftler, der aus Litauen kam – damals Teil der Sowjetunion - berichtete die dort herrschende Meinung sei: bei 68 handle es sich um eine Erfindung des KGB, um den Kapitalismus besser kritisieren zu können. "Vietnam ist mir näher als Dresden" meinte ein Weststudent bei einem DDR-Besuch.
Die West-68er kündigten den DDR-Bewohnern das Mitleid auf - das war gemein und richtig. Die klassische Ost-Haltung, darauf zu warten, das der Westen alles regele, begann komisch zu wirken und anachronistisch zu sein. Übrigens: vielleicht haben die Steinwürfe von Joschka Fischer auf West-Polizisten auf ihre Weise ein klein wenig zur deutschen Neuvereinigung beigetragen. Auch wenn Fischer daran im Traum nicht dachte. Die verschiedenen 1968 und ihre Echos bleiben somit eine Herausforderung für eine europäische Erinnerungskultur.
<im_1591>Rathenow Lutz</im_1591>Lutz Rathenow 1952 in Jena geboren, Studium Germanistik/Geschichte, kurz vor dem Examen wegen nicht konformer Ansichten und Handlungen relegiert, Transportarbeiter, 1977 Übersiedlung nach Ostberlin, knapp 15. 000 Seiten Stasi-Akten zeugen von Aktivitäten und Repressalien, wegen des ersten nur im Westen verlegten Buches 1980 kurzzeitig verhaftet, Lyriker, Essaiist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker. Zusammen mit Harald Hauswald (Fotografie) schrieb er den erfolgreichen Foto-Text-Band "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" (Jaron Verlag, 2005, englisch/deutsch). 2006 erscheinen "Ein Eisbär aus Apolda" (Kindergeschichten), "Gelächter, sortiert" (Fußballgedichte) und wieder mit dem Kult-Fotografen Harald Hauswald "Gewendet - vor und nach dem Mauerfall. Fotos und Texte aus dem Osten" (Jaron Verlag).
Die West-68er-Bewegung erreichte in kleinen Erfahrungsdosen auch die Ostblockstaaten, aber jeden auf andere Weise. In der DDR waren der Roman "Hinter Glas" des Franzosen Robert Merle und der amerikanische Film "Blutige Erdbeeren" Riesenerfolge, die nicht vorhandene eigene politische Erfahrungen und nicht präsente Kunstwerke ersetzen mussten. Überall wurde Menschen verhaftet, an meiner Schule ein Pennäler, weil er eine tschechische Fahne mit Trauerflor getragen hatte. Im Grunde genommen frustrierte das Ende in Prag. Die Revolte in Paris und Westberlin gab dagegen Hoffnung, irgendwie reagierten die im Westen den Frust im Osten gleich mit ab. Der Westen lenkte vom Widerstand in der DDR ab und führte zu ihm hin.
Der Normalbürger zeigte für die beiden 68 wenig Interesse. Mit den west-demonstrierenden Studenten hätte er gern getauscht, um sich in der Bundesrepublik für Westgeld ausbeuten zu lassen. Anders als Dubcek und Genossen traute er nach dem Einmarsch der Roten Armee 1945, dem 17. Juni 1953, Ungarn 1956 und dem Mauerbau 1961 dem Realsozialismus keine Reformfähigkeit mehr zu. In Rumänien aber hieß 68: ein Regierungschef, der sich später als übelster Diktator des Ostblocks entpuppen sollte, bietet der Sowjetunion die Stirn und verweigert den Einmarsch in Prag. Nie wieder war die Kommunistische Partei Rumäniens so beliebt wie 1968 und junge kritische Autoren traten überall im Land in sie ein. In Polen gab es andere Proteste der Arbeiter und Studenten und eine antijüdische Diskriminierungswelle. In Bulgarien schienen die Studenten vor allem an der Sex-Welle samt Anschauungsmaterial in Form von Zeitschriften interessiert. Ein Wissenschaftler, der aus Litauen kam – damals Teil der Sowjetunion - berichtete die dort herrschende Meinung sei: bei 68 handle es sich um eine Erfindung des KGB, um den Kapitalismus besser kritisieren zu können. "Vietnam ist mir näher als Dresden" meinte ein Weststudent bei einem DDR-Besuch.
Die West-68er kündigten den DDR-Bewohnern das Mitleid auf - das war gemein und richtig. Die klassische Ost-Haltung, darauf zu warten, das der Westen alles regele, begann komisch zu wirken und anachronistisch zu sein. Übrigens: vielleicht haben die Steinwürfe von Joschka Fischer auf West-Polizisten auf ihre Weise ein klein wenig zur deutschen Neuvereinigung beigetragen. Auch wenn Fischer daran im Traum nicht dachte. Die verschiedenen 1968 und ihre Echos bleiben somit eine Herausforderung für eine europäische Erinnerungskultur.
<im_1591>Rathenow Lutz</im_1591>Lutz Rathenow 1952 in Jena geboren, Studium Germanistik/Geschichte, kurz vor dem Examen wegen nicht konformer Ansichten und Handlungen relegiert, Transportarbeiter, 1977 Übersiedlung nach Ostberlin, knapp 15. 000 Seiten Stasi-Akten zeugen von Aktivitäten und Repressalien, wegen des ersten nur im Westen verlegten Buches 1980 kurzzeitig verhaftet, Lyriker, Essaiist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker. Zusammen mit Harald Hauswald (Fotografie) schrieb er den erfolgreichen Foto-Text-Band "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" (Jaron Verlag, 2005, englisch/deutsch). 2006 erscheinen "Ein Eisbär aus Apolda" (Kindergeschichten), "Gelächter, sortiert" (Fußballgedichte) und wieder mit dem Kult-Fotografen Harald Hauswald "Gewendet - vor und nach dem Mauerfall. Fotos und Texte aus dem Osten" (Jaron Verlag).