Jeder Tag ein Muttertag
Mein Mütterlein war nicht lieb und auch nicht Mütterlein. Außerdem war bei uns jeder Tag ein Muttertag. Das jedenfalls behauptete mein Vater, der zwar über ein Herrenzimmer verfügte, in das niemand hinein durfte, der aber dennoch eine klare Vorstellung davon hatte, wem das beste Stück von dem zukam, was er mittags auf den Tisch brachte: seiner Frau.
Für Mutter nur das Beste! Das war die Regel bei uns zu Hause. Dafür brauchte man keinen Extratag. Und schon gar nicht gestriegelte und gebügelte engelsgleiche Kinderlein, die morgens das Tablett mit Kaffee bekleckerten und mit verbranntem Toast bepackten, um Mütterlein mit einem Frühstück und Krümeln im Bett eine Freude zu machen. Oder selbstgehäkelte Topflappen. Muttertag galt bei uns als eine rein kommerzielle Angelegenheit und nicht als Sache des Herzens. Tatsächlich wurde das Ereignis in Deutschland vom Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber 1923 unter dem Motto "Ehret die Mutter" propagiert, eine sichere Bank für den Schnittblumenabsatz.
Muttertag war ein Klischee, das einer Welt entsprach, in der dem männlichen Familienoberhaupt die Pantoffeln und die Zeitung gebracht und die Zigarre angezündet wurde, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kam. Wir lieferten die Parodie dazu, indem wir meiner Mutter den Mantel abnahmen, wenn sie abends aus dem Büro anrauschte und nach großer weiter Welt roch, und sie die Beine hochlegen und sich bedienen lassen durfte.
Das war Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre, zu einer Zeit also, als in vielen anderen deutschen Familien aufgeatmet wurde, weil endlich wieder die Männer die Ernährer waren und ihre Frauen nicht mehr arbeiten mussten. Die Mütter meiner Schulfreundinnen waren züchtig waltende Hausfrauen, entspannt und wohlriechend, stets Kuchen backend und voll Mitleid mit dem Schlüsselkind. Mein Neid war begrenzt und Mitleid brauchte ich nicht. Ich war ausgesprochen gern ein vernachlässigtes Kind.
Für mich war diese häusliche Arbeitsteilung das normalste der Welt und ich verteidigte meine Mutter glühend, wenn es darauf ankam. Sie war berufstätig. Sie war erfolgreich im Beruf. Sie war das beste Stück und sie bekam das beste Stück. Bei uns war eben immer Muttertag.
War das Frauenemanzipation? Nicht, sofern man darunter ein Programm versteht. Meine Eltern handelten nicht, weil sie eine Idee von etwas hatten. Es hatte sich durch zehn Jahre Krieg und die Gefangenschaft meines Vaters so ergeben.
Meine Mutter bestritt während all dieser Jahre ihr eigenes Leben, kämpfte ihre eigenen Kämpfe. Für sie war es kein Glück, als mein Vater in den 50er-Jahren endlich eine feste Beamtenstelle bekam und sie nicht mehr hätte arbeiten müssen. Wieso müssen? Sie wollte ja.
Und so wurde mein Vater als Richter am Landgericht für den Spruch bekannt: "Meine Herren, die Sitzung ist beendet, ich muss nach Hause, Kartoffeln aufsetzen." Er kochte nicht sonderlich gut. Und so etwas wie bürgerliche Manieren hatte er in zehn Jahren Männergesellschaft verlernt. Aber ich war ihm schon damals dankbar dafür, dass er das Kuchenbacken strikt ablehnte. Ein emanzipierter Mann? Er bestand darauf, kein Waschlappen zu sein. Aber auf seine rauhe Art hat mein Vater Wiedergutmachung versucht. Hat Abbitte geleistet für all die Männer, die auch nach dem verlorenen Krieg noch Sieger sein wollten, wenigstens über die eigene Frau. Er ist mit Leib und Seele zivil geworden. Einen Muttertag brauchte auch er nicht.
Und heute? Hat Mütterlein zwar keine abgearbeiteten Hände mehr, lebt aber stets am Rande des Nervenzusammenbruchs. Schließlich werden Kinder heute nicht mehr glücklich vernachlässigt, sondern aufopferungsvoll gefördert. Mütterlein von heute transportiert die lieben Kleinen von der Ballettschule zum Klavierunterricht zum Reiten zur Nachhilfe zur Castingshow. Bangt um ihre Zukunft, will ihnen alle Chancen eröffnen, sie rund um die Uhr fördern und mehren.
Dafür braucht es ihn womöglich mehr denn je, den Muttertag. Als einen Tag der Ruhe und Einkehr - auch im Sinne der Kinder, die vielleicht gerne auch mal glücklich vernachlässigt wären. Muttertag - am besten einmal die Woche. Mindestens.
Dr. Cora Stephan, Frankfurter Publizistin und Buchautorin, Jahrgang 1951, promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte" "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".
Muttertag war ein Klischee, das einer Welt entsprach, in der dem männlichen Familienoberhaupt die Pantoffeln und die Zeitung gebracht und die Zigarre angezündet wurde, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kam. Wir lieferten die Parodie dazu, indem wir meiner Mutter den Mantel abnahmen, wenn sie abends aus dem Büro anrauschte und nach großer weiter Welt roch, und sie die Beine hochlegen und sich bedienen lassen durfte.
Das war Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre, zu einer Zeit also, als in vielen anderen deutschen Familien aufgeatmet wurde, weil endlich wieder die Männer die Ernährer waren und ihre Frauen nicht mehr arbeiten mussten. Die Mütter meiner Schulfreundinnen waren züchtig waltende Hausfrauen, entspannt und wohlriechend, stets Kuchen backend und voll Mitleid mit dem Schlüsselkind. Mein Neid war begrenzt und Mitleid brauchte ich nicht. Ich war ausgesprochen gern ein vernachlässigtes Kind.
Für mich war diese häusliche Arbeitsteilung das normalste der Welt und ich verteidigte meine Mutter glühend, wenn es darauf ankam. Sie war berufstätig. Sie war erfolgreich im Beruf. Sie war das beste Stück und sie bekam das beste Stück. Bei uns war eben immer Muttertag.
War das Frauenemanzipation? Nicht, sofern man darunter ein Programm versteht. Meine Eltern handelten nicht, weil sie eine Idee von etwas hatten. Es hatte sich durch zehn Jahre Krieg und die Gefangenschaft meines Vaters so ergeben.
Meine Mutter bestritt während all dieser Jahre ihr eigenes Leben, kämpfte ihre eigenen Kämpfe. Für sie war es kein Glück, als mein Vater in den 50er-Jahren endlich eine feste Beamtenstelle bekam und sie nicht mehr hätte arbeiten müssen. Wieso müssen? Sie wollte ja.
Und so wurde mein Vater als Richter am Landgericht für den Spruch bekannt: "Meine Herren, die Sitzung ist beendet, ich muss nach Hause, Kartoffeln aufsetzen." Er kochte nicht sonderlich gut. Und so etwas wie bürgerliche Manieren hatte er in zehn Jahren Männergesellschaft verlernt. Aber ich war ihm schon damals dankbar dafür, dass er das Kuchenbacken strikt ablehnte. Ein emanzipierter Mann? Er bestand darauf, kein Waschlappen zu sein. Aber auf seine rauhe Art hat mein Vater Wiedergutmachung versucht. Hat Abbitte geleistet für all die Männer, die auch nach dem verlorenen Krieg noch Sieger sein wollten, wenigstens über die eigene Frau. Er ist mit Leib und Seele zivil geworden. Einen Muttertag brauchte auch er nicht.
Und heute? Hat Mütterlein zwar keine abgearbeiteten Hände mehr, lebt aber stets am Rande des Nervenzusammenbruchs. Schließlich werden Kinder heute nicht mehr glücklich vernachlässigt, sondern aufopferungsvoll gefördert. Mütterlein von heute transportiert die lieben Kleinen von der Ballettschule zum Klavierunterricht zum Reiten zur Nachhilfe zur Castingshow. Bangt um ihre Zukunft, will ihnen alle Chancen eröffnen, sie rund um die Uhr fördern und mehren.
Dafür braucht es ihn womöglich mehr denn je, den Muttertag. Als einen Tag der Ruhe und Einkehr - auch im Sinne der Kinder, die vielleicht gerne auch mal glücklich vernachlässigt wären. Muttertag - am besten einmal die Woche. Mindestens.
Dr. Cora Stephan, Frankfurter Publizistin und Buchautorin, Jahrgang 1951, promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte" "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".