Jede Idee wird mit ihrer Form geboren

Von Barbara Wiegand · 15.08.2013
Mit ihrer nahtlos in ein Stück Gazellenfell verpackten Pelztasse schuf sie eine Ikone des Surrealismus: 100 Jahre alt wäre die Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim Anfang Oktober geworden. In ihrer Geburtsstadt Berlin wird das mit einer großen Ausstellung gefeiert.
"Von Beeren nährt man sich, mit dem Schuh verehrt man sich. Husch Husch, der schönste Vokal entleert sich."

Husch, husch: Das Flüchtige, das Unfassbare zu fassen, ihm in Worten und Bildern eine Form zu geben und sei sie noch so fantastisch, das war es, was Meret Oppenheim zeitlebens faszinierte.

"Zeige mir die Stelle in den Wolken, die der Flügel der Schwalbe öffnete, das Wellental in den Haaren der Göttin, die grünen Lichter im Wald."

So schreibt Oppenheim Gedichte von Himmel und Erde, malt Wald und Wolken mal unergründlich nebulös, mal abstrakt strukturiert. Oder sie unternimmt den seltsamen Versuch, Worte mit einem Stück Paketband zu verpacken.

"Sie selbst hat ja gesagt: Jede Idee wird geboren mit ihrer Form. Und es gibt ein sehr wichtiges Werk, das heißt ‚Worte in giftige Buchstaben eingepackt‘, da sehen wir einfach nur die Verpackung. Nämlich ein Kordelband, das sozusagen das Nichts einfasst. Das ist eine Art der Darstellung des Unbegreifbaren – also all dessen, was eigentlich die Kunst ausmacht."

… erläutert Kuratorin Heike Eipeldauer. Und oft kamen ihr diese Ideen im Schlaf: die Masken mit Türknaufnasen und Sockenzungen, die die passionierte Karnevalsnärrin aus allerlei Krimskrams zusammenbaut, der Tisch mit Krähenfüßen, den sie entwirft, vielleicht sind sie ihr zuvor im Traum begegnet. So mischen sich Fantasie und Alltag, Kultur und Natur in Meret Oppenheims Oeuvre. In bezaubernd zarten Zeichnungen, surrealen Gemälden, verspielten Apparaturen, schrägen Skulpturen. All das ist in der Ausstellung nicht chronologisch geordnet, sondern folgt klug den zahlreichen roten Fäden, die Kuratorin Eipeldauer in Oppenheims Werk aufgespürt hat.

Dabei ergeben sich spannende Perspektiven und Parallelen. Und den Vorwurf, keine eigenständige Künstlerin mit individuellem Stil zu sein, vielmehr Muse der surrealistischen Avantgarde um Marcel Duchamps, Max Ernst, Man Ray, die sie im Paris der 30er Jahre kennen- und teils auch lieben lernt. Diesen Vorwurf weist Oppenheims Nichte Lisa Wenger stellvertretend für ihre Tante zurück:

"Na, wenn Sie sich vorstellen eine Mae West und die Meret Oppenheim daneben, das ist wirklich was anderes. Also – sie war ja flach wie’n Brett. Sie war dünn und flach. Und manchmal, also mein Gefühl sagt mir auch, dass ihre Erscheinung und die Beziehungen manchmal emotional eher kühl waren. Sie war nett, liebenswürdig. Aber sicher nicht wie eine italienische Mama."

Wenn man das ebenfalls in der Schau gezeigte berühmte Foto von Man Ray betrachtet, auf dem Oppenheim nackt an einer Druckerpresse posiert, dann hat man nicht das Gefühl, dass Meret Oppenheim sich als Model instrumentalisieren ließ. Hält sie doch das Rad der Druckerpresse wie ein Kapitän das Steuer in der Hand - sich des erotischen Knisterns ihres Auftritts sichtlich bewusst.

Auch andere Fotos in der Ausstellung zeugen von dieser starken Persönlichkeit: Fotos mit dem Vater, einem jüdischen Arzt aus Berlin, mit der Schweizer Großmutter, einer Kinderbuchautorin und Frauenrechtlerin. Oppenheim mit lang fallendem Haar in Pariser Ateliers und Cafés, mit elegantem grauem Kurzhaarschnitt vor ihrem Haus im Tessin.

Lisa Wenger: "Wenn sie irgendwo durch ein Restaurant lief, dann drehten sich die Leute um, auch wenn sie sie gar nicht kannten. Sie hatte eine unglaublich starke Ausstrahlung."
Eine Ausstrahlung, eine sichtliche Lust an exzentrischen Auftritten, skurrilen Inszenierungen, aber auch einer ernsten Unergründlichkeit, die auch in der Kunst ihren Ausdruck findet. In einer spielerischen Leichtigkeit aber auch einer gewissen Schwermut. Wenn etwa in einem Bild eine Meerjungfrau versucht, an Land zu kommen, aber dabei zu Stein erstarrt. Ein Gemälde, das 1938 entstand. Am Beginn einer Schaffenskrise, ausgelöst durch die Schatten, die der Nationalsozialismus über Europa warf.

Ihre jüdische Familie musste sich in die sichere Schweiz zurückziehen, die Pariser Avantgardeszene wurde vielfach ins Exil vertrieben. So sieht man viele Facetten aus dem Leben und Werk der Meret Oppenheim in dieser Ausstellung. Was man nicht sieht, ist die berühmte Pelztasse. Jene kuriose Skulptur, eine Tasse mit Löffel auf Untertasse, nahtlos mit einem Stück Gazellenfell bezogen. Nochmals Heike Eipeldauer:

"Die Frage ist, fehlt es wirklich? Die Pelztasse ist ganz schnell zur Ikone des Surrealismus aufgestiegen. Und war für Meret Oppenheim nach dem frühen Ruhm, der damit einherging, denn es hat wirklich den Kern des surrealistischen Objektverständnisses getroffen, ein echtes Problem. Und sie hat versucht, sich davon zu befreien. Und zu zeigen, dass Meret Oppenheim mehr ist als Muse der Surrealistin und Urheberin der Pelztasse, ist eines der Anliegen der Ausstellung."

Und in der Tat – die Tasse fehlt nicht. Auch ohne flauschiges Frühstücksgeschirr bekommt man hier einen faszinierenden Einblick in das wunderbare künstlerische Universum der Meret Oppenheim.

Informationen des Martin Gropius Bau über die Meret Oppenheim Retrospektive (bis 1. Dezember 2013)
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