"Jede Generation entdeckt ihren Rembrandt"
Einen "Perspektivwechsel" nennt Dirk Blübaum, Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen zu Schwerin, weniger auf Events und mehr auf die Präsentation der eigenen Schätze zu setzen. Derzeit sind dort unter dem Titel "Scheinbar vertraut" holländische Genremalerie zu sehen.
Liane von Billerbeck: Beinahe hätte die Hamburger Kunsthalle ihr Museum der Gegenwart für einige Wochen schließen müssen – der Zwang, einerseits sparen zu müssen und andererseits immer spektakulärere Ausstellungen anzubieten, Kunst quasi zum Event zu machen, der überfordert viele Museen finanziell, aber auch kuratorisch. In der mecklenburgischen Landeshauptstadt Schwerin, da geht man seit Jahren quasi den entgegengesetzten Weg. Man inszeniert nämlich die eigenen Bestände – aus finanziellen Gründen, aber auch, um Bilder und Skulpturen wieder neu zu entdecken und neu entdecken zu lassen, von anderem und auch von jüngerem Publikum. Dirk Blübaum ist seit gut einem Jahr Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen zu Schwerin, die unter anderem bekannt sind für ihre Sammlungen flämischer Malerei und niederländischer Meister des 17. Jahrhunderts. Herr Blübaum, ich grüße Sie!
Dirk Blübaum: Ja, ebenfalls, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Sie zeigen in Schwerin, was Sie an Schätzen haben. Genügt das, um sich gegen diese Eventisierung der Kultur durchzusetzen?
Blübaum: Ich denke, schon mal sicherlich man braucht auch zwischendurch Events, machen wir ja auch, aber es ist auch ganz wichtig, dass man sich seiner eigenen Tradition und eigenen Bestände sicher ist, diese behandelt, diese aufarbeitet, weil wenn wir es nicht täten, wofür sammeln wir – muss man ganz einfach zurückfragen auch. Und das ist ja nichts, ja, meinetwegen Langweiliges, es kann genauso spektakulär werden. Es gibt so einen schönen Spruch, der immer wieder, es heißt: Jede Generation entdeckt ihren Rembrandt. Und das heißt ja nichts anderes, dass man jetzt nicht neue Gemälde von ihm entdeckt, sondern im Grunde neue Fragestellungen an die Gemälde hat. Jede Generation arbeitet mit ihrem Kenntnisstand, mit ihrem Wissen, mit ihren Empfindungen, und insofern ist es sehr, sehr spannend und sehr legitim einfach, mit den Beständen zu arbeiten.
von Billerbeck: Das Staatliche Museum Schwerin präsentiert ja derzeit in einer kürzlich eröffneten Ausstellung unter dem Titel "Scheinbar vertraut" ausgerechnet Genremalerei und holländische noch dazu. Das klingt sicher für ungeübte Betrachter nicht so sonderlich aufregend, für manche vielleicht sogar langweilig.
Blübaum: Ja, sicherlich, das kann schon sein, aber dies "Scheinbar vertraut", genau darauf spielt es an. Man denkt, man kennt sie alle, man weiß, das sind ja, mein Gott, einfach alltägliche Darstellungen des alltäglichen Lebens – nein, sind es halt nicht. Und darauf wollen wir aufmerksam machen, dass es halt im Grunde doppelbödig sogar ist. Zum einen, wir zeigen wesentlich mehr Gemälde, als man gemeinhin in der Sammlung sieht, ungefähr doppelt so viel, zum anderen gibt es halt wesentlich mehr in den Gemälden zu sehen, als man vermeintlich erkennen kann. Man muss sich auf die Werke einlassen, und das ist auch das Spannende immer wieder, und da hat auch Kunst, alte Kunst für uns heute was zu sagen, weil wir sind ja kein historischer Betrachter – muss man ganz einfach so sehen –, sondern wir nehmen das Werk aus dem Jahre 1720 heute im Jahr 2010 wahr. Und darum ist der Dialog, den wir führen, sehr zeitgenössisch. Das kann natürlich darum gehen zum Beispiel, ja, wir kennen die unwahrscheinliche Detailgenauigkeit, und fragt man sich natürlich sofort, ja, ist das ein Schnappschuss. Das heißt, wir sprechen über die Realität zu der Differenz von der Abbildung und der Kunst. Was ist wirklich dargestellt, was ist fabuliert, was ist erfunden? Das kann man sehr schön auch an heutigen, bis hin zur Digitaltechnik treiben letzten Endes, wie wird das Abbild verändert und zeigt nicht das, was vor der Linse ist. Oder ganz schönes Beispiel auch jetzt bei der Fußball-WM, bei der letzten, wie häufig die Trikots von den Spielern Gegenstand der Redaktionen waren, und dass man sagt, ja, diese Körperlichkeit, diese muskulären Körper wurden da durchgespielt und ja, das haben wir auch im 17. Jahrhundert schon letzten Endes, und ähnliche Sichten auf Körperwelten, also auf Körper. Und ich denke, das sind ganz aktuelle Fragen wiederum. Da muss man sich nicht fragen, warum macht man so was heute noch?
von Billerbeck: Sie haben es in einem Nebensatz irgendwie eben schon mal erwähnt, dass auch diese Bilder ja nicht den tatsächlichen Alltag ihrer Zeit abbilden, sondern die Dargestellten auf diesen Genregemälden ja auch verändern. Also welches Bild zeigt denn so ein Bild aus dem 17. Jahrhundert von der damaligen Zeit, von einem Bauern oder von einem Bürger?
Blübaum: Ja, er spiegelt vor, eine spiegelt eine gewisse Haltung vor. Das ist natürlich, wenn Sie halt diese typischen Kneipenszenen sehen, dass man dann natürlich als Besitzer dieses Bildes, als etwas Bessergestellter dann natürlich sagen kann, ja, aber so genau sind wir nicht, diese Abgrenzungsdiskussion kann man sehr schön daran sehen. Also wie differenzieren die soziale Stände damals aus, ist ähnlich heute, die Diskussion gibt es immer noch. Oder auch die Frage des Fleißes zum Beispiel auch, also dass man halt nicht nur abwartet, sondern wirklich das Leben in die eigenen Hände nimmt, in Darstellungen von Handwerkern und anderen Tätigkeiten. Oder auch die berühmten 'Bordelltjes', ich meine, diese Bordells, die man meistens damit in den 70er-Jahren, also des 20. Jahrhunderts halt, vermeinte zu sehen, wenn dort eine, zwei, drei Frauen, zwei, drei Männer zusammen in einem Innenraum standen, vor einem Bett, wurde das alles zu einer Bordellszene gemacht. Und da ist man heute schon weiter und weiß, es geht auch um Liebe, es geht um Achtung von Frauen zum Beispiel, es geht um ganz normale Heiratsgespräche und nicht um Bordellszenen. Und das sind natürlich auch Fragen, die immer noch aktuell sind.
von Billerbeck: Nun fragt man sich natürlich, wenn solche Genrebilder ausgestellt werden, es sind 100 Stück, die in Ihrer Ausstellung da gerade zu sehen sind aus Ihren Beständen, wie machen Sie das, dass wir Heutigen mit heutigen Augen diese Bilder ansehen, denn unsere Betrachtungsweise, die ist ja über Jahrhunderte gewachsen. Also wie bringen Sie dem heutigen Zuschauer, dem heutigen Publikum solche Bilder von vor ein paar Jahrhunderten nahe?
Blübaum: Indem wir natürlich so ein bisschen bei den Beschreibungen der Bilder darauf achten, dass wir genau so diese Denkanstöße geben, dass man nicht nur auf dies rein Kunsthistorische abhebt, sondern wirklich auch Fragen dort formuliert oder Gedanken formuliert, die einen Betrachter, einen heutigen Betrachter genau in diese Richtung auch bringen können, dass er sich seine eigenen Gedanken über das Dargestellte macht und nicht nur meint, er muss jetzt das also kunsthistorisch genau, detailliert auseinandernehmen, was halt da vielleicht im Pinselstrich dieses oder jenes Künstlers zu sehen ist. Also wir versuchen, da so ein paar Hinweise einfach zu geben, weil vorgeben kann man es nicht – ich denke, das wäre falsch. Aber man kann einfach so ein paar Richtungen ansetzen.
von Billerbeck: "Scheinbar vertraut", die Staatlichen Museen zu Schwerin setzen auf ihre Bestände, um das Publikum zu begeistern, und zeigen derzeit holländische Genremalerei. Nun wirken Museen ja nicht nur fürs Publikum, es wird dort auch heftig geforscht. Was bringt es denn nun für die Museumsleute, wenn die die eigenen Bestände wieder und wieder durchforsten?
Blübaum: Das bringt unwahrscheinlich viel, es ist im Grunde unsere Basis, kann man ganz einfach sagen. Bis hin – das Spektakulärste war zum Beispiel, wir haben einen Teil eines Paulus Potter gefunden, wiedergefunden, eines Gemäldes. Dieses Gemälde wurde zum ersten Mal im 18. Jahrhundert, zum zweiten Mal im Laufe des 20. Jahrhunderts jeweils circa acht Zentimeter an beiden Seiten beschnitten. Beim zweiten Mal, im 20. Jahrhundert, hat der Restaurator, der das beschnitten hat, das Teil, was er rausgenommen hat, hinten in den Schmuckrahmen so eingearbeitet, dass es bis heute noch nie jemand entdeckt hatte. Das haben wir zum Beispiel gefunden jetzt dabei und wissen, wie das Gemälde jetzt im ursprünglichen Zustand ausgesehen hat. Wir haben zum Beispiel, wenn man den ersten Katalog von 1792 sich anschaut, 13 Gemälde von Rembrandt. Inzwischen wissen wir, aufgrund der wissenschaftlichen Forschung, wir haben kein einziges mehr von Rembrandt, aber viele andere Künstler, die wir heute namentlich benennen können, die damals sozusagen unbekannt waren. Also wir können das Bild wesentlich breiter zeichnen, und das bringt für die rein kunstwissenschaftliche Forschung zum einen eine ganze Menge, zum anderen aber auch einen Blick in die Sammlung, Sammlungstätigkeit des Kurfürsten – wie haben die damals sozusagen Kunst gesehen, was wollten die. Wollten die bestimmte Szenen nur haben oder wollten die, und das haben sie getan de facto nämlich, enzyklopädisch sammeln, um eine ganze Kulturlandschaft abzubilden. Und das kann man nur, wenn man wirklich in die Akten steigt, in die Gemälde sich wirklich vertieft und beides zueinander bringt. Wir haben ja den glücklichen Zustand hier, dass wir auch noch große Teile der Erwerbungskorrespondenzen noch unausgewertet haben, das tun wir jetzt nach und nach. Und insofern ist es wirklich sehr, sehr wichtig, diesen Bestand von – Sie nannten es – flämischer und holländischer Malerei, rund 600 Gemälde, aufzuarbeiten.
von Billerbeck: Die Hamburger Galerie der Gegenwart, die zeigt ja auch ihre Bestände unter dem Titel "Alle Kunst ist Gegenwartskunst" – haben die von Ihnen gelernt, oder ist das sozusagen ein Trend, dass man künftig viel mehr auf die eigenen Bestände abheben wird in den Museen, nicht nur zwangsläufig, weil das Geld fehlt, sondern weil es auch einfach gar kein Verlust ist, weil man da eben Kostbarkeiten hat?
Blübaum: Ich glaube, es ist wirklich kein Verlust, und die Diskussionen im Kollegenkreis, die dauern schon einige Jahre an. Dass man aufgrund der – man muss ein bisschen zurückgreifen – eigentlich der späten 80er-Jahre immer mehr dem Event verfallen ist und es sehr, sehr groß gezogen hat und vielfach die Schätze, die man im Haus hat, dann hinten runterfielen. Und da gibt es seit einigen Jahren doch eine Gegenbewegung, dass man sagt, okay, wir müssen natürlich auch mit großen Namen arbeiten, wir wollen auch Neues bringen, aber als Häuser, als Museen haben wir eine Tradition, und der sollten wir uns auch stellen, mit der sollten wir arbeiten. Und von dort ausgehend sollten wir dann unsere wirklich wichtigen und großen Ausstellungen zeigen. Und das können genau im Endeffekt solche Events werden, wie, ja, wie man vorher sozusagen 10, 15 Jahre nur meinetwegen die großen Impressionistenausstellungen kannte oder Ähnliches. Ich denke, das ist eine Perspektivverschiebung, die wir jetzt erleben.
von Billerbeck: Dirk Blübaum war mein Gesprächspartner, der Direktor der Staatlichen Museen zu Schwerin. Ich danke Ihnen!
Blübaum: Gern geschehen!
von Billerbeck: Die Ausstellung unter dem Titel "Scheinbar vertraut", die holländische Genremalerei in Schwerin, ist kürzlich eröffnet noch bis zum 14. November zu sehen.
Dirk Blübaum: Ja, ebenfalls, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Sie zeigen in Schwerin, was Sie an Schätzen haben. Genügt das, um sich gegen diese Eventisierung der Kultur durchzusetzen?
Blübaum: Ich denke, schon mal sicherlich man braucht auch zwischendurch Events, machen wir ja auch, aber es ist auch ganz wichtig, dass man sich seiner eigenen Tradition und eigenen Bestände sicher ist, diese behandelt, diese aufarbeitet, weil wenn wir es nicht täten, wofür sammeln wir – muss man ganz einfach zurückfragen auch. Und das ist ja nichts, ja, meinetwegen Langweiliges, es kann genauso spektakulär werden. Es gibt so einen schönen Spruch, der immer wieder, es heißt: Jede Generation entdeckt ihren Rembrandt. Und das heißt ja nichts anderes, dass man jetzt nicht neue Gemälde von ihm entdeckt, sondern im Grunde neue Fragestellungen an die Gemälde hat. Jede Generation arbeitet mit ihrem Kenntnisstand, mit ihrem Wissen, mit ihren Empfindungen, und insofern ist es sehr, sehr spannend und sehr legitim einfach, mit den Beständen zu arbeiten.
von Billerbeck: Das Staatliche Museum Schwerin präsentiert ja derzeit in einer kürzlich eröffneten Ausstellung unter dem Titel "Scheinbar vertraut" ausgerechnet Genremalerei und holländische noch dazu. Das klingt sicher für ungeübte Betrachter nicht so sonderlich aufregend, für manche vielleicht sogar langweilig.
Blübaum: Ja, sicherlich, das kann schon sein, aber dies "Scheinbar vertraut", genau darauf spielt es an. Man denkt, man kennt sie alle, man weiß, das sind ja, mein Gott, einfach alltägliche Darstellungen des alltäglichen Lebens – nein, sind es halt nicht. Und darauf wollen wir aufmerksam machen, dass es halt im Grunde doppelbödig sogar ist. Zum einen, wir zeigen wesentlich mehr Gemälde, als man gemeinhin in der Sammlung sieht, ungefähr doppelt so viel, zum anderen gibt es halt wesentlich mehr in den Gemälden zu sehen, als man vermeintlich erkennen kann. Man muss sich auf die Werke einlassen, und das ist auch das Spannende immer wieder, und da hat auch Kunst, alte Kunst für uns heute was zu sagen, weil wir sind ja kein historischer Betrachter – muss man ganz einfach so sehen –, sondern wir nehmen das Werk aus dem Jahre 1720 heute im Jahr 2010 wahr. Und darum ist der Dialog, den wir führen, sehr zeitgenössisch. Das kann natürlich darum gehen zum Beispiel, ja, wir kennen die unwahrscheinliche Detailgenauigkeit, und fragt man sich natürlich sofort, ja, ist das ein Schnappschuss. Das heißt, wir sprechen über die Realität zu der Differenz von der Abbildung und der Kunst. Was ist wirklich dargestellt, was ist fabuliert, was ist erfunden? Das kann man sehr schön auch an heutigen, bis hin zur Digitaltechnik treiben letzten Endes, wie wird das Abbild verändert und zeigt nicht das, was vor der Linse ist. Oder ganz schönes Beispiel auch jetzt bei der Fußball-WM, bei der letzten, wie häufig die Trikots von den Spielern Gegenstand der Redaktionen waren, und dass man sagt, ja, diese Körperlichkeit, diese muskulären Körper wurden da durchgespielt und ja, das haben wir auch im 17. Jahrhundert schon letzten Endes, und ähnliche Sichten auf Körperwelten, also auf Körper. Und ich denke, das sind ganz aktuelle Fragen wiederum. Da muss man sich nicht fragen, warum macht man so was heute noch?
von Billerbeck: Sie haben es in einem Nebensatz irgendwie eben schon mal erwähnt, dass auch diese Bilder ja nicht den tatsächlichen Alltag ihrer Zeit abbilden, sondern die Dargestellten auf diesen Genregemälden ja auch verändern. Also welches Bild zeigt denn so ein Bild aus dem 17. Jahrhundert von der damaligen Zeit, von einem Bauern oder von einem Bürger?
Blübaum: Ja, er spiegelt vor, eine spiegelt eine gewisse Haltung vor. Das ist natürlich, wenn Sie halt diese typischen Kneipenszenen sehen, dass man dann natürlich als Besitzer dieses Bildes, als etwas Bessergestellter dann natürlich sagen kann, ja, aber so genau sind wir nicht, diese Abgrenzungsdiskussion kann man sehr schön daran sehen. Also wie differenzieren die soziale Stände damals aus, ist ähnlich heute, die Diskussion gibt es immer noch. Oder auch die Frage des Fleißes zum Beispiel auch, also dass man halt nicht nur abwartet, sondern wirklich das Leben in die eigenen Hände nimmt, in Darstellungen von Handwerkern und anderen Tätigkeiten. Oder auch die berühmten 'Bordelltjes', ich meine, diese Bordells, die man meistens damit in den 70er-Jahren, also des 20. Jahrhunderts halt, vermeinte zu sehen, wenn dort eine, zwei, drei Frauen, zwei, drei Männer zusammen in einem Innenraum standen, vor einem Bett, wurde das alles zu einer Bordellszene gemacht. Und da ist man heute schon weiter und weiß, es geht auch um Liebe, es geht um Achtung von Frauen zum Beispiel, es geht um ganz normale Heiratsgespräche und nicht um Bordellszenen. Und das sind natürlich auch Fragen, die immer noch aktuell sind.
von Billerbeck: Nun fragt man sich natürlich, wenn solche Genrebilder ausgestellt werden, es sind 100 Stück, die in Ihrer Ausstellung da gerade zu sehen sind aus Ihren Beständen, wie machen Sie das, dass wir Heutigen mit heutigen Augen diese Bilder ansehen, denn unsere Betrachtungsweise, die ist ja über Jahrhunderte gewachsen. Also wie bringen Sie dem heutigen Zuschauer, dem heutigen Publikum solche Bilder von vor ein paar Jahrhunderten nahe?
Blübaum: Indem wir natürlich so ein bisschen bei den Beschreibungen der Bilder darauf achten, dass wir genau so diese Denkanstöße geben, dass man nicht nur auf dies rein Kunsthistorische abhebt, sondern wirklich auch Fragen dort formuliert oder Gedanken formuliert, die einen Betrachter, einen heutigen Betrachter genau in diese Richtung auch bringen können, dass er sich seine eigenen Gedanken über das Dargestellte macht und nicht nur meint, er muss jetzt das also kunsthistorisch genau, detailliert auseinandernehmen, was halt da vielleicht im Pinselstrich dieses oder jenes Künstlers zu sehen ist. Also wir versuchen, da so ein paar Hinweise einfach zu geben, weil vorgeben kann man es nicht – ich denke, das wäre falsch. Aber man kann einfach so ein paar Richtungen ansetzen.
von Billerbeck: "Scheinbar vertraut", die Staatlichen Museen zu Schwerin setzen auf ihre Bestände, um das Publikum zu begeistern, und zeigen derzeit holländische Genremalerei. Nun wirken Museen ja nicht nur fürs Publikum, es wird dort auch heftig geforscht. Was bringt es denn nun für die Museumsleute, wenn die die eigenen Bestände wieder und wieder durchforsten?
Blübaum: Das bringt unwahrscheinlich viel, es ist im Grunde unsere Basis, kann man ganz einfach sagen. Bis hin – das Spektakulärste war zum Beispiel, wir haben einen Teil eines Paulus Potter gefunden, wiedergefunden, eines Gemäldes. Dieses Gemälde wurde zum ersten Mal im 18. Jahrhundert, zum zweiten Mal im Laufe des 20. Jahrhunderts jeweils circa acht Zentimeter an beiden Seiten beschnitten. Beim zweiten Mal, im 20. Jahrhundert, hat der Restaurator, der das beschnitten hat, das Teil, was er rausgenommen hat, hinten in den Schmuckrahmen so eingearbeitet, dass es bis heute noch nie jemand entdeckt hatte. Das haben wir zum Beispiel gefunden jetzt dabei und wissen, wie das Gemälde jetzt im ursprünglichen Zustand ausgesehen hat. Wir haben zum Beispiel, wenn man den ersten Katalog von 1792 sich anschaut, 13 Gemälde von Rembrandt. Inzwischen wissen wir, aufgrund der wissenschaftlichen Forschung, wir haben kein einziges mehr von Rembrandt, aber viele andere Künstler, die wir heute namentlich benennen können, die damals sozusagen unbekannt waren. Also wir können das Bild wesentlich breiter zeichnen, und das bringt für die rein kunstwissenschaftliche Forschung zum einen eine ganze Menge, zum anderen aber auch einen Blick in die Sammlung, Sammlungstätigkeit des Kurfürsten – wie haben die damals sozusagen Kunst gesehen, was wollten die. Wollten die bestimmte Szenen nur haben oder wollten die, und das haben sie getan de facto nämlich, enzyklopädisch sammeln, um eine ganze Kulturlandschaft abzubilden. Und das kann man nur, wenn man wirklich in die Akten steigt, in die Gemälde sich wirklich vertieft und beides zueinander bringt. Wir haben ja den glücklichen Zustand hier, dass wir auch noch große Teile der Erwerbungskorrespondenzen noch unausgewertet haben, das tun wir jetzt nach und nach. Und insofern ist es wirklich sehr, sehr wichtig, diesen Bestand von – Sie nannten es – flämischer und holländischer Malerei, rund 600 Gemälde, aufzuarbeiten.
von Billerbeck: Die Hamburger Galerie der Gegenwart, die zeigt ja auch ihre Bestände unter dem Titel "Alle Kunst ist Gegenwartskunst" – haben die von Ihnen gelernt, oder ist das sozusagen ein Trend, dass man künftig viel mehr auf die eigenen Bestände abheben wird in den Museen, nicht nur zwangsläufig, weil das Geld fehlt, sondern weil es auch einfach gar kein Verlust ist, weil man da eben Kostbarkeiten hat?
Blübaum: Ich glaube, es ist wirklich kein Verlust, und die Diskussionen im Kollegenkreis, die dauern schon einige Jahre an. Dass man aufgrund der – man muss ein bisschen zurückgreifen – eigentlich der späten 80er-Jahre immer mehr dem Event verfallen ist und es sehr, sehr groß gezogen hat und vielfach die Schätze, die man im Haus hat, dann hinten runterfielen. Und da gibt es seit einigen Jahren doch eine Gegenbewegung, dass man sagt, okay, wir müssen natürlich auch mit großen Namen arbeiten, wir wollen auch Neues bringen, aber als Häuser, als Museen haben wir eine Tradition, und der sollten wir uns auch stellen, mit der sollten wir arbeiten. Und von dort ausgehend sollten wir dann unsere wirklich wichtigen und großen Ausstellungen zeigen. Und das können genau im Endeffekt solche Events werden, wie, ja, wie man vorher sozusagen 10, 15 Jahre nur meinetwegen die großen Impressionistenausstellungen kannte oder Ähnliches. Ich denke, das ist eine Perspektivverschiebung, die wir jetzt erleben.
von Billerbeck: Dirk Blübaum war mein Gesprächspartner, der Direktor der Staatlichen Museen zu Schwerin. Ich danke Ihnen!
Blübaum: Gern geschehen!
von Billerbeck: Die Ausstellung unter dem Titel "Scheinbar vertraut", die holländische Genremalerei in Schwerin, ist kürzlich eröffnet noch bis zum 14. November zu sehen.