Jean Ziegler: Blochers Abwahl ist eine "Befreiung"
Nach der Abwahl des Schweizer Rechtspopulisten Christoph Blocher wachsen die Hoffnungen auf politische Reformen in der Eidgenossenschaft. Das bisherige System der konsensorientierten Konkordanz sei beendet, sagte der Schweizer Politiker und UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler.
Marie Sagenschneider: Die berühmte Schweitzer Konkordanz, die bedeutet, alle wichtigen politischen Kräfte werden in die Regierungsverantwortung eingebunden. Man setzt auf Kompromisse, auf Rücksicht und auf Fairness. So hat es seit 1848, seit der Gründung des Schweizer Bundesstaates funktioniert. Und zwar so gut, dass in diesen knapp 160 Jahren erst vier Minister abgewählt worden sind. Diese Konkordanz hatte Christoph Blocher, der rechtspopulistische Chef der SVP, mehr als einmal in Frage gestellt. Aber dass nicht er, sondern die anderen Parteien diese parlamentarischen Geflogenheiten aufkündigen könnten, damit hat er wohl nicht gerechnet. Sozialdemokraten, Grüne, auch Teile der Christdemokraten hatten ihm vorgestern die Wiederwahl als Justizminister verweigert. Stattdessen wurde eine andere SVP-Politikerin zur neuen Ressortchefin gekürt, Eveline Widmer-Schlumpf. Sie brauchte eine Nacht, um darüber nachzudenken, am nächsten Morgen nahm sie die Wahl an. Das war gestern Morgen. Christoph Blocher hat daraufhin verkündet, in die Opposition gehen zu wollen. Die beiden SVP-Minister in der Schweizer Regierung wurden aus der Fraktion ausgeschlossen. Was ist da los in der Schweiz? Darüber wollen wir nun hier im Deutschlandradio Kultur mit Jan Ziegler sprechen. Er war viele Jahre Mitglied des Schweizer Parlaments, heute ist er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Guten Morgen, Herr Ziegler.
Jan Ziegler: Guten Tag.
Sagenschneider: Die Abwahl Blochers, war das so eine Art Befreiungsschlag?
Ziegler: Es war sicher ein Bruch in der schweizerischen Demokratie für mich und sehr, sehr viele Demokraten. Und für manche Leute war das ein Befreiungsschlag, weil dieser Christoph Blocher, Multimilliardär, Großunternehmer, führt die Rechts- oder bis extreme Rechtspartei, die die Mehrheit hat, die die Wahl gewonnen hat im letzten Oktober, die sogenannte SVP. Und die Politik, die er gemacht hat als Justizminister und die er vertritt als Parteichef, ist eine Politik der Fremdenfeindlichkeit, des Bruchs mit dem Asylrecht und des rechtsextremen Populismus. In dem Sinn kann man sagen, dass es ganz sicher eine Befreiung ist und eine gute Sache, dass der nicht mehr in der Regierung sitzt. Aber jetzt sitzt er eben in der Opposition. Und Opposition in der Schweiz ist etwas ganz besonderes, weil wir direkte Demokratie haben, und jedes Gesetz des Parlamentes kann angefochten werden, wenn es 50.000 Bürger so wollen. Das Referendum, oder die Verfassung sagt, die können umgeschrieben werden, wenn es per Initiativrecht 100.000 Bürger verlangen. Also Opposition ist etwas sehr Lähmendes in der sogenannten direkten Demokratie.
Sagenschneider: Das heißt, Blocher wird jetzt, wenn er schon fundamentale Opposition ankündigt, die Regierung mit einer Flut von Volksabstimmungen gegen die Gesetze der Regierung eindecken.
Ziegler: Ja, ganz sicher. Und nicht nur auf Bundesebene. Sie wissen, die Schweiz ist kein Nationalstaat, nicht vergleichbar zum Beispiel mit der Bundesrepublik. Sie ist eine Eidgenossenschaft, ein Zusammenschluss, aber eine Genossenschaft seit 1291 von jetzt 26 Staaten. Das geht vom Appenzell Innerrhoden mit 25.000 Einwohnern bis zum Kanton Zürich mit über zwei Millionen Einwohnern. Und all diese 26 Staaten, die die Eidgenossenschaft ausmachen, zusammen, die haben ganz große Hoheitsrechte. Die Fiskalhoheit, die Schulhoheit, die Gerichtshoheit, die Polizeihoheit zum Beispiel, die ist bei den Mitgliedsstaaten. Und also eine rechtsextreme, populistische Partei, die gut organisiert ist, die wählstark ist wie diese Blocher-Partei leider, die kann den Betrieb lähmen auf kantonaler Ebene und zwar ganz seriös, und eben auch auf eidgenössischer Ebene. Ich glaube es beginnt wirklich eine neue Zeit in der Schweiz, ich würde sagen, endlich, weil das ist ein verschlafenes Land. Aber in welche Richtung das geht, das macht mir ziemlich Sorgen.
Sagenschneider: Aber so wie sie sagen, Herr Ziegler, war es dann wirklich klug, Herrn Blocher als Justizminister abzuwählen? Denn in der Regierung wäre er ja besser zu kontrollieren gewesen.
Ziegler: Nein. Es gibt eine rote Linie, glaube ich, in der Politik überall. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Negierung des Asylrechts, das kann nicht toleriert werden. In welcher Position auch immer, in welcher Situation auch immer, das darf nicht sein in einer Demokratie, sonst geht die Demokratie den Bach herunter. Das hat das Parlament jetzt, von den Christsozialen bis zu den Radikalen, bis zu den Sozialisten, bis zu den Grünen, begriffen und auch so gemacht. Die Schweiz ist das zweitreichste Land der Welt pro Kopf der Bevölkerung mit dem Fluchtkapital aus der ganzen Welt, das in die Ali-Baba-Kelle der Züricher Großbanken strömt, wegen dem Bankgeheimnis. Aber gleichzeitig mit dieser starken, großen, auch kompetenten Bankenoligarchie gibt es ein Volk, wo es sehr, sehr viele prekäre soziale Situationen gibt. 550.000 Schweizer Bürger nach der größten Caritasstudie leben knapp oder unter dem Existenzminimum. Also es müssen soziale Reformen im Sinne sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung des Volkseinkommens gemacht werden in der Schweiz, aber nicht auf die populistische, rechtsextreme, fremdenfeindliche Art mit dem Blocher. Und es ist ein Zeichen der Gesundheit einerseits des schweizerischen Volksbewusstseins, dass diese Lösung der rechtspopulistischen Fremdenfeindlichkeit, der sogenannten ... Theorie, also der Schuldenbocktheorie, der Fremde ist Feind, ist schuld an den sozialen Missständen und an der fortschreitenden Armut, dass diese Lösung, dieser politische Vorschlag zurückgewiesen worden ist. Was jetzt aber kommt, das ist ziemlich beunruhigend.
Sagenschneider: Hat das langfristige Folgen? Wird das langfristig das Ende der Konkordanz bedeuten?
Ziegler: Ich glaube, die Konkordanz ist zu Ende. Was heißt Konkordanz? Sie haben das ganz richtig am Anfang gesagt, die Schweiz, der Bundesstaat, ist 1848 gegründet worden nach einem Bürgerkrieg, ziemlich blutig, zwischen katholisch-konservativen Innerschweizer Kantonen und den städtischen Republikanern, meist protestantischer Herkunft. Und über Generationen hinweg wurde die schweizerische Politik beherrscht vom Trauma des Auseinanderbrechens, vom Trauma der zentrifugalen Kräfte. Wir haben vier Kulturen auf einem ganz kleinen Nationalterritorium – 42.000 Quadratkilometer Schweizer Boden, 60 Prozent sind davon nur bewohnbar, der Rest sind Felsen und Gletscher und so weiter. Ein kleines Nationalterritorium, da leben sieben Millionen Menschen jetzt, die gehören vier Kulturen an, die rätoromanische, die italienische, die alemannische, die französische. Da gibt es vier Religionen, also die zwei christlichen Konfessionen, die jüdische Religion, die muselmanische Religion. Da gibt es vier Sprachen. Also die zentrifugalen Kräfte sind sehr, sehr stark zwischen einem Engadiner Bergbauern und einem Züricher Geschäftsanwalt. Da liegen Sternjahre. Die Angst war immer auseinander zu brechen, und deshalb wurden sämtliche religiösen, politischen Kräfte eingebunden in diese Konkordanz ...
Sagenschneider: Gibt es denn diese Angst vor dem Auseinanderbrechen noch?
Ziegler: Die gibt es sicher noch unbewusst. Aber ich glaube heute mit den integrativen wirtschaftlichen Kräften, die es gibt, mit dem Fortschritt der Kommunikationsmittel und so weiter, sind diese koexistierenden kulturellen Universen, die nur koexistierten so lange Zeit, ziemlich in eine Symbiose übergegangen. Und die schweizerische Eidgenossenschaft, die wird nicht auseinanderbrechen, glaube ich nicht. Sie schützt sich ja davor, indem sie nicht in die EU eintreten will, ein Eigenleben führen will. Das Trauma ist unberechtigt heute. Es braucht einen modernen, sozial gerechten Wohlfahrtsstaat. Ob wir das zurecht bringen jetzt auf demokratische Weise, das muss sich erst noch zeigen.
Jan Ziegler: Guten Tag.
Sagenschneider: Die Abwahl Blochers, war das so eine Art Befreiungsschlag?
Ziegler: Es war sicher ein Bruch in der schweizerischen Demokratie für mich und sehr, sehr viele Demokraten. Und für manche Leute war das ein Befreiungsschlag, weil dieser Christoph Blocher, Multimilliardär, Großunternehmer, führt die Rechts- oder bis extreme Rechtspartei, die die Mehrheit hat, die die Wahl gewonnen hat im letzten Oktober, die sogenannte SVP. Und die Politik, die er gemacht hat als Justizminister und die er vertritt als Parteichef, ist eine Politik der Fremdenfeindlichkeit, des Bruchs mit dem Asylrecht und des rechtsextremen Populismus. In dem Sinn kann man sagen, dass es ganz sicher eine Befreiung ist und eine gute Sache, dass der nicht mehr in der Regierung sitzt. Aber jetzt sitzt er eben in der Opposition. Und Opposition in der Schweiz ist etwas ganz besonderes, weil wir direkte Demokratie haben, und jedes Gesetz des Parlamentes kann angefochten werden, wenn es 50.000 Bürger so wollen. Das Referendum, oder die Verfassung sagt, die können umgeschrieben werden, wenn es per Initiativrecht 100.000 Bürger verlangen. Also Opposition ist etwas sehr Lähmendes in der sogenannten direkten Demokratie.
Sagenschneider: Das heißt, Blocher wird jetzt, wenn er schon fundamentale Opposition ankündigt, die Regierung mit einer Flut von Volksabstimmungen gegen die Gesetze der Regierung eindecken.
Ziegler: Ja, ganz sicher. Und nicht nur auf Bundesebene. Sie wissen, die Schweiz ist kein Nationalstaat, nicht vergleichbar zum Beispiel mit der Bundesrepublik. Sie ist eine Eidgenossenschaft, ein Zusammenschluss, aber eine Genossenschaft seit 1291 von jetzt 26 Staaten. Das geht vom Appenzell Innerrhoden mit 25.000 Einwohnern bis zum Kanton Zürich mit über zwei Millionen Einwohnern. Und all diese 26 Staaten, die die Eidgenossenschaft ausmachen, zusammen, die haben ganz große Hoheitsrechte. Die Fiskalhoheit, die Schulhoheit, die Gerichtshoheit, die Polizeihoheit zum Beispiel, die ist bei den Mitgliedsstaaten. Und also eine rechtsextreme, populistische Partei, die gut organisiert ist, die wählstark ist wie diese Blocher-Partei leider, die kann den Betrieb lähmen auf kantonaler Ebene und zwar ganz seriös, und eben auch auf eidgenössischer Ebene. Ich glaube es beginnt wirklich eine neue Zeit in der Schweiz, ich würde sagen, endlich, weil das ist ein verschlafenes Land. Aber in welche Richtung das geht, das macht mir ziemlich Sorgen.
Sagenschneider: Aber so wie sie sagen, Herr Ziegler, war es dann wirklich klug, Herrn Blocher als Justizminister abzuwählen? Denn in der Regierung wäre er ja besser zu kontrollieren gewesen.
Ziegler: Nein. Es gibt eine rote Linie, glaube ich, in der Politik überall. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Negierung des Asylrechts, das kann nicht toleriert werden. In welcher Position auch immer, in welcher Situation auch immer, das darf nicht sein in einer Demokratie, sonst geht die Demokratie den Bach herunter. Das hat das Parlament jetzt, von den Christsozialen bis zu den Radikalen, bis zu den Sozialisten, bis zu den Grünen, begriffen und auch so gemacht. Die Schweiz ist das zweitreichste Land der Welt pro Kopf der Bevölkerung mit dem Fluchtkapital aus der ganzen Welt, das in die Ali-Baba-Kelle der Züricher Großbanken strömt, wegen dem Bankgeheimnis. Aber gleichzeitig mit dieser starken, großen, auch kompetenten Bankenoligarchie gibt es ein Volk, wo es sehr, sehr viele prekäre soziale Situationen gibt. 550.000 Schweizer Bürger nach der größten Caritasstudie leben knapp oder unter dem Existenzminimum. Also es müssen soziale Reformen im Sinne sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung des Volkseinkommens gemacht werden in der Schweiz, aber nicht auf die populistische, rechtsextreme, fremdenfeindliche Art mit dem Blocher. Und es ist ein Zeichen der Gesundheit einerseits des schweizerischen Volksbewusstseins, dass diese Lösung der rechtspopulistischen Fremdenfeindlichkeit, der sogenannten ... Theorie, also der Schuldenbocktheorie, der Fremde ist Feind, ist schuld an den sozialen Missständen und an der fortschreitenden Armut, dass diese Lösung, dieser politische Vorschlag zurückgewiesen worden ist. Was jetzt aber kommt, das ist ziemlich beunruhigend.
Sagenschneider: Hat das langfristige Folgen? Wird das langfristig das Ende der Konkordanz bedeuten?
Ziegler: Ich glaube, die Konkordanz ist zu Ende. Was heißt Konkordanz? Sie haben das ganz richtig am Anfang gesagt, die Schweiz, der Bundesstaat, ist 1848 gegründet worden nach einem Bürgerkrieg, ziemlich blutig, zwischen katholisch-konservativen Innerschweizer Kantonen und den städtischen Republikanern, meist protestantischer Herkunft. Und über Generationen hinweg wurde die schweizerische Politik beherrscht vom Trauma des Auseinanderbrechens, vom Trauma der zentrifugalen Kräfte. Wir haben vier Kulturen auf einem ganz kleinen Nationalterritorium – 42.000 Quadratkilometer Schweizer Boden, 60 Prozent sind davon nur bewohnbar, der Rest sind Felsen und Gletscher und so weiter. Ein kleines Nationalterritorium, da leben sieben Millionen Menschen jetzt, die gehören vier Kulturen an, die rätoromanische, die italienische, die alemannische, die französische. Da gibt es vier Religionen, also die zwei christlichen Konfessionen, die jüdische Religion, die muselmanische Religion. Da gibt es vier Sprachen. Also die zentrifugalen Kräfte sind sehr, sehr stark zwischen einem Engadiner Bergbauern und einem Züricher Geschäftsanwalt. Da liegen Sternjahre. Die Angst war immer auseinander zu brechen, und deshalb wurden sämtliche religiösen, politischen Kräfte eingebunden in diese Konkordanz ...
Sagenschneider: Gibt es denn diese Angst vor dem Auseinanderbrechen noch?
Ziegler: Die gibt es sicher noch unbewusst. Aber ich glaube heute mit den integrativen wirtschaftlichen Kräften, die es gibt, mit dem Fortschritt der Kommunikationsmittel und so weiter, sind diese koexistierenden kulturellen Universen, die nur koexistierten so lange Zeit, ziemlich in eine Symbiose übergegangen. Und die schweizerische Eidgenossenschaft, die wird nicht auseinanderbrechen, glaube ich nicht. Sie schützt sich ja davor, indem sie nicht in die EU eintreten will, ein Eigenleben führen will. Das Trauma ist unberechtigt heute. Es braucht einen modernen, sozial gerechten Wohlfahrtsstaat. Ob wir das zurecht bringen jetzt auf demokratische Weise, das muss sich erst noch zeigen.