"Je suis Muslim!"

Radikalisierung oder Jugendrevolte?

Vor zehn Jahren in Clichy-sous-Bois: Jugendliche stehen vor einem brennenden Auto. Man sieht nur ihre Schatten.
Nach den Anschlägen von Paris: Radikalisierung oder Jugendrevolte? © picture alliance / dpa / Pierre Le Masson
Götz Nordbruch im Gespräch mit Timo Grampes · 07.12.2015
"Je suis Muslim!" oder "Fuck Paris" sind Sprüche, mit denen deutsche Lehrer im Unterricht konfrontiert werden. Oft sei das nur eine Provokation, sagt Islamwissenschaftler Götz Nordbruch. Zugleich müsse ein Pädagoge aber auch abschätzen, ob sich hier eine Radikalisierung abzeichne.
Ob Bartträger oder Kopftuchträgerin - seit den Anschlägen von Paris müssen sich auch in Deutschland Muslime zunehmend rechtfertigen. "Je suis Muslim!" kursiert im Internet und an Pausenhöfen als demonstratives Bekenntnis zu einer Religion, die im Alltag vieler Jugendliche zuvor oft nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat.
Der Islam- und Sozialwissenschaftler Götz Nordbruch hat beobachtet, dass das Thema Religion nach Ereignissen wie in Paris im Schulalltag eine immer größere Rolle spiele. Deshalb hätten immer mehr Lehrkräfte den Wunsch nach Beratung und Fortbildung.
Im Unterricht und auch im Internet kursierten verstärkt Aussprüche wie "Je suis Muslim!" oder "Fuck Paris", sagte Nordbruch im Deutschlandradio Kultur. Darüber hinaus sei es für manche Lehrer schwierig gewesen, eine Schweigeminute für die Opfer von Paris durchzusetzen. Das sei dann als unterschwellige Sympathie bestimmter Schüler für die Attentate von Paris interpretiert worden:
"Wir versuchen, darauf hinzuweisen, dass das für viele Schüler auch eine Form von Provokation ist. Und oft auch eine Reaktion ist auf das, was in der Gesellschaft über Muslime diskutiert wird. Wir haben den Eindruck, dass Jugendliche mit dieser Provokation versuchen, überhaupt erst einmal ihre Perspektiven einbringen zu können. Dass es weniger darum geht, dass sie jetzt diese Anschläge in Paris befürworten."
Jugendliche wollen zu Wort kommen
So hätten viele Jugendliche offenbar den Eindruck, dass die die Muslime betreffenden Probleme nicht mehr im Blick der Gesellschaft seien, meinte Nordbruch:
"Das ist eben genau das Geschehen im Nahen Osten. Das sind Ereignisse in Tschetschenien, das ist das, was im Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien passierte. Das taucht im Unterricht nicht auf und sie sagen: Wir wollen damit auch einmal zu Wort kommen."
Doch wie ernst sollten Lehrer an deutschen Schulen Provokationen oder Sympathiebekundungen für die Terrormiliz IS en nehmen? Wo endet die jugendliche Revolte, wo beginnt eine Radikalisierung? Das sei eine schwierige Gratwanderung:
Porträt von Götz Nordbruch
Götz Nordbruch, Gründer des Vereins ufuq, bei Deutschlandradio Kultur© Deutschlandradio/ Sandra Ketterer
"Ich glaube, die Herausforderung ist, diesen normalen Wunsch nach Provokation, den ja alle Jugendlichen haben, wahrzunehmen. Und gleichzeitig auch zu sehen, dass so eine Sympathiebekundung für Gewalt, vielleicht auch für den Islamischen Staat nicht zu unterschätzen ist. Und dass das noch einmal eine andere Dimension hat als das Punk-Sein in den achtziger oder neunziger Jahren. Das ist in gewisser Weise Jugendrevolte, das ist Protest. Und gleichzeitig sind die Konsequenzen natürlich andere, sie sind viel dramatischer als bei anderen Jugendkulturen. Und da den genauen Punkt zu finden, ab wann man intervenieren muss als Pädagoge, das ist, glaube ich, sehr schwer."
Götz Nordbruch ist Gründer des Vereins "Ufuq", dessen neues Präventionsprogramm "Protest, Provokation und Propaganda" deutsche Pädagogen ausbildet und erstmals langfristig begleiten wird.
Mehr zum Thema