Jazz in Eisenach

Von Susanne von Schenck |
Vor zehn Jahren wurde das Jazzarchiv in Eisenach eröffnet. Es ist neben dem Jazzinstitut Darmstadt die einzige Einrichtung ihrer Art in Deutschland. Das Archiv basiert vor allem auf der Sammlung des Blues- und Jazzpioniers Günter Boas und beherbergt zahllose Zeitschriften, Fotos, Briefe und natürlich Tonträger.
Nicht das Beginnen werde belohnt, sondern das Durchhalten, sagt Reinhard Lorenz. Und er sagt auch: Wenn die Zeit reif ist, gibt es eine Lösung. Der Kulturamtsleiter der Stadt Eisenach weiß, wovon er spricht. Er gehört zu den Mitbegründern des International Jazz Archive, das er behutsam und beharrlich durch die letzten zehn Jahre gesteuert hat.

Dem Jazz und Blues verfiel Reinhard Lorenz, Jahrgang 1952, schon als 14-Jähriger, in der DDR, wo diese Musik allenfalls gelitten war. Jetzt sitzt er im International Jazz Archive und blättert in einem Fotoalbum. Der Raum in der "Alten Mälzerei", nur wenige Schritte vom Eisenacher Stadtzentrum entfernt, ist groß und hell, auf dem runden Tisch liegen verstreut Schallplatten, Briefe, Fotos.

"Günter Boas ist hier zu sehen, hier Bessie Smith. Also, er hieß nicht grundlos Günter Bessie Boas, weil er quasi der erste, der die gesamte Bessie Smith Aufnahmepalette auf Original Columbia Schellack Records gehabt hat in Europa."

Der umfangreiche Nachlass des 1993 gestorbenen Bluespianisten Günter Boas bildet den Grundstock des Eisenacher Jazzarchivs. Reinhard Lorenz hatte ihn noch kennengelernt und durfte ihn sogar vor dem Fall der Mauer in Dortmund besuchen.

"Ich hab ihn gehört in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre in Berlin im Palast der Republik, und ich war völlig fasziniert, wie da jemand auf diese Art und Weise Blues spielte."

Eine fast zwei Meter große Schwarz-weiß-Aufnahme von Günter Boas prangt an der Längsseite des Raums über einem Ledersofa. Auf sie fällt der Blick sofort, wenn man hereinkommt.

"Es ist eine unheimlich interessante Persönlichkeit, in Dessau geboren, im Umfeld des Bauhauses 1920. Als Fünfjähriger hat er von einem Schüler von Paul Klee, der bei ihm ein und ausging, so wie Paul Klee übrigens auch, in seinem Elternhaus die erste Schellackplatte bekommen, der Blues von Louis Armstrong, haben wir hier über die Zeiten gerettet. Er hat dann später mit allen Großen dieser Welt, mit Armstrong, Fitzgerald, mit allen Bluesleuten korrespondiert, wir haben über 1000 Briefe hier aus seinem Nachlass, also das sind einfach Kostbarkeiten der Musikgeschichte."

"Unglaublich, was man unter dem Himmel von Eisenach so findet","

schrieb Wim Wenders 2003 ins Gästebuch des Jazzarchivs. Der Regisseur recherchierte dort für seinen Film "The Soul of a Man". Unglaublich ist auch, wie manche Sammlungen ihren Weg ins Archiv finden. Zum Beispiel die von Trevor Richards.

Vor drei Jahren kam sie nach Eisenach – in einem Überseecontainer: Schallplatten, Bücher, Percussionsinstrumente. Direkt aus New Orleans. Dort hatte Trevor Richards die letzten 28 Jahre gelebt – bis er nach dem Wirbelsturm "Katrina" sein Haus aufgeben musste.

""Eine entsetzliche Zeit: Als wir das Haus öffneten nach der Flut mit dem ganzen toxischem Schlamm und alles, dann haben wir wochenlang gearbeitet, bis die Sachen einigermaßen frei waren und getrocknet. Was zu retten war, ist dann verpackt worden in Koffer und per Container von New Orleans rüber nach Eisenach."

Daniel Eckenfelder, jazzbegeisterter Eisenacher Unternehmer, war dabei, als der Container ankam und geöffnet wurde. Der Inhalt moderte und muffelte.

"Man hat mitbekommen, was das für ein Schaden sein muß, wie nach einer Naturkatastrophe wirklich einfach Wertgüter in ihrem faktischen, physischen Bestands einfach beschädigt werden. Es waren klatschnasse Platten, die noch trieften, die noch nass waren, die von Grünspan und Schimmel befallen waren, und die haben wir dann in unsere Räume gehievt. Die mussten komplett gesäubert werden, ganz grob vom aufgelösten Papier über irgendwelche fäkalchemisch duftenden Substanzen, die darauf hafteten, erstmal ganzgrob gereinigt. Und dann haben wir mit einem Plattenwaschgerät die ganzen Platten gereinigt, Rille für Rille mit einer Alkohollösung gesäubert, und in der Tat funktioniert ein Großteil der Platten dann wieder."

Inzwischen lebt Trevor Richards selbst mitten in Deutschland, in einem kleinen Dorf in Hessen, ungefähr eine Stunde von Eisenach entfernt. Der gebürtige Engländer, Jahrgang 1945, war in den 60er-Jahren nach Amerika gegangen – wegen der Musik. Der zierliche, freundliche Mann lernte unter anderem in der Band von Louis Armstrong Schlagzeug – dann zog es ihn direkt nach New Orleans, der Wiege des Jazz. New Orleans Jazz spielt er bis heute – auf einem besonderen Schlagzeug, das nicht in den Fluten von "Katrina" unterging.

"Ein Schlagzeug hatte ich zum Glück benutzt für mich, und das war bereits in Europa, das Schlagzeug von Zutty Singleton, das war der Schlagzeuger von Louis Armstrong und auch Jugendfreund, also, die sind zusammen aufgewachsen. Den hab ich in den 60er-Jahren kennengelernt in New York, hab bei ihm Unterricht genommen und als er in den 70ern gestorben ist, hab ich das Schlagzeug bekommen und seitdem auch gespielt."

Neben Schlagzeugen berühmter Jazzmusiker hatte Trevor Richards vor allem Jazz und Bluesplatten der 30er- sowie den Bebop der 40er-Jahre gesammelt und einen Teil seines Hauses in ein kleines Museum verwandelt. Das, was von seinen Schätzen noch übriggeblieben war, schickte er deshalb nach Eisenach, weil er Reinhard Lorenz und das Jazzarchiv kannte.

"Die Musik ist nicht mehr die populäre Musik, die sie in früheren Jahrzehnten war, die ist auch zu einem Minderheiteninteresse geworden und ohne natürlich die Unterstützung des Establishments, die die europäische klassische Musik genießt und daher muss man alles tun, was man kann, um die Musik etwas mehr in die Öffentlichkeit zu bringen."

Vielleicht wird der Jazz in Europa mehr gehegt und gepflegt als in seinem Ursprungsland Amerika. Wie dem auch sei: Trevor Richards’ gesäuberte Vinylplatten sind nun in frischen weißen Hüllen und haben einen Platz im Archiv gefunden.

Was das Eisenacher vom älteren Darmstädter Jazzarchiv unterscheidet, ist der biographische Ansatz. Den Menschen nicht aus dem Blick verlieren, das gehört zur Grundphilosophie von Reinhard Lorenz, einem der Mitbegründer des Archivs.

"Ich hab immer einen sehr großen Faible gehabt für das Warburg Institut in Hamburg, bzw. später London: aus dem kulturhistorischen Zusammenhang erwachsen. Das heißt, dass die schnipselige Eintrittskarte bis zur Zeitungsnotiz bis zum Fachbuch übergreifend in die Literatur rein, wir sammeln halt auch Belletristik von James Baldwin oder Richard Wright oder was weiß ich, wo man auf drei Seiten auf einem Roman oftmals mehr erfährt als in einem Fachbuch. Insofern: diese Grundphilosophie war uns wichtig, und wir wollten bis heute auch die Menschen mit sammeln, die diese Lebensergebnisse auch vertrauensvoll zu Bewahrung anvertraut haben."

Seit der Gründung des Archivs im Mai 1999 ist die Sammlung auf 80.000 Schallplatten und Tonträger, ebenso viele Fotos und Negative, 60.000 Zeitschriften, zahllose Artikel, Plakate, Bücher, Korrespondenzen und Filme angewachsen. Eine Fundgrube. Das Jazzarchiv unterstand bis 2008 dem Eisenacher Kulturamt und ist nun Bestand der gemeinnützigen Lippmann und Rau Stiftung. Zu deren illustrem Kuratorium gehört übrigens auch Wim Wenders.

Die Lippmann und Rau Stiftung wurde 2006 ins Leben gerufen, in Erinnerung an die Gründer der legendären Konzertagentur Horst Lippmann und Fritz Rau. Sie waren es, die erstmals Eric Clapton, Bob Dylan oder die Rolling Stones nach Deutschland holten und die ab 1962 die legendären American Folk Blues Festivals organisierten. Der musikhistorisch bedeutsame Nachlass von Horst Lippmann, ein gebürtiger Eisenacher, befindet sich ebenfalls im Jazzarchiv.

Die Archivarbeit machen dort bisher ausschließlich Freiwillige. Lehrer, Schüler oder Studenten sortieren und katalogisieren. Und jeden Montag kommt Eckhard Dohn, ein Eisenacher Rentner.

"Das ist der Tag, auf den ich mich freue, man sitzt hier wunderbar und fühlt sich wohl, Musik dazu, ja es ist einfach schön. Natürlich würden wir uns wünschen, wenn der eine oder andere auch dazukommen würde."

Es passiert aber auch hin und wieder, dass Jazzmusiker, die in Eisenach auftreten, im Archiv mithelfen. Daniel Gugolz, Schweizer Bassist, hat sich immer mal wieder an den großen Tisch gesetzt und sortiert: Fotos, Briefe, Bücher. "Jede Leidenschaft", sagte der Philosoph Walter Benjamin, "grenzt ja ans Chaos, die sammlerische aber an das Erinnern".

"Hier ist eines der wichtigsten Archive gegründet und aufgebaut worden. Es ist eigentlich auf der einen Seite Museum, auf der anderen Seite Inspiration für nachfolgende Generationen. Das ist ja eine wichtige Sache, dass Kulturgut stets in Bewegung bleibt und nicht verstaubt irgendwo, und junge Leute wieder die Möglichkeit haben, zu sehen, woher denn die Wurzeln der populären Musik kommen."

Am Nachmittag probt Daniel Gugolz mit seinen Kollegen Frank Muschalle und Peter Müller für den Auftritt am Abend - im Jazzkeller "Posaune", der direkt unter den Archivräumen liegt.

"Wir machen tanzbaren Jazz, wir lieben die Musik als Jazz noch Tanzmusik war. Das ist grob umrissen, wir bedienen ganz besonders die bluesige Ecke dieses Segmentes und das mit Leidenschaft."

Die "Posaune" feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag, das Jazzarchiv wäre ohne den Jazzclub nicht denkbar. In den Jahren des SED-Staates hieß er "Arbeitsgemeinschaft Jazz im Klubhaus des Automobilwerkes Eisenach" und hatte es nicht leicht. Denn der Jazz wurde anfänglich als "barbarisierendes Gift des amerikanischen Klassenfeindes" diffamiert. Mit einem Trick gelang es den Eisenacher Jazzfans, diese für DDR Verhältnisse "subversive" Musik zu etablieren. Jazz und Folk, so sagten sie, sei schließlich die Stimme des amerikanischen Proletariats. Sogar eine Zeitung, "Die Posaune", erschien, anfangs auf Matrizen heimlich vervielfältigt. Später, als die DDR Behörden merkten, dass sie nicht mehr zu stoppen war, wurde sie richtig gedruckt. Die Zeitung gab dem Jazzclub seinen Namen.

"Es gibt nicht sehr viele davon, die wirklich schon so alt sind und die so lange durchgehalten haben und die so eine Vergangenheit haben. Man muss ja bedenken, der ist in der DDR gegründet wurden unter schwierigen Umständen. Dieser Jazzclub in Eisenach kann sich in eine Reihe stellen mit Hamburg, Berlin, es gibt rein künstlerisch gesehen überhaupt keinen Unterschied vom Programm her auch nicht, und das Publikum ist phantastisch. Man erwartet es nicht in einer so kleinen Stadt Eisenach. Es kann mithalten mit allen großen Clubs, absolut","

findet der Jazzpianist Stefan Kling, der gelegentlich in der "Posaune" auftritt. Allerdings fehlte dem Club lange Zeit ein fester Ort, bis er in der alten Mälzerei eine Bleibe fand. Aber die Gebäude und das Programm zu finanzieren ist nur mit Hilfe überzeugter Förderer möglich. Einer von ihnen ist Daniel Eckenfelder, der vor über zehn Jahren aus Süddeutschland nach Eisenach zog.

""Das stand von 52 an leer, lediglich die Enkelin des Firmengründers wohnte noch da. Erst ab 96 wurde es wieder Betrieb genommen, bis dahin war es eine Brachruine."

Tausende von Arbeitsstunden waren nötig, um die verfallene Mälzerei zu einer Kulturfabrik umzubauen. Tonnenweise wurden Schutt und Gerümpel abtransportiert.

Dort, wo bis 1952 Malz geröstet wurde, traten gut 40 Jahre später die ersten Jazzmusiker auf. Inzwischen hat die Stadt Eisenach der Lippmann und Rau Stiftung den ganzen Gebäudekomplex überlassen.
Heute erinnern die Mauern aus Sandstein, das doppelte Tonnengewölbe und die alten Holzträger an den industriellen Charakter des Gebäudes.

"Die Alte Mälzerei ist ein Industriedenkmal, die einzige in Europa erhaltene Malzfabrik, über Kellerräume bis oben industriellen Räumlichkeiten erhalten sind. Jetzt in Keller runter, der mit 62 Meter langen Tonnengewölben. Davor Konzerte, Tonnengewölbe für Gastronomie."

Zu dem Ensemble der Alten Mälzerei gehört auch ein kleines Museum. Dort wird an Schautafeln und Fotographien auch die Geschichte des Jazz in der DDR erzählt: "Zwischen Traum und Trauma – im Wartesaal des Sozialismus" hat Reinhard Lorenz sie genannt. Jazz in den Diktaturen Osteuropas gehört zu den Arbeitsschwerpunkten des Eisenacher Archivs.

"Sie sehen hinter mir ein Köfferchen stehen von Ernst Ludwig Petrowski, gefüllt mit Dokumenten, auch in der frühen Zeit der Deutschen Demokratischen Republik, wie sie sich dereinst nannte. Das ist uns wichtig, diese Zusammenhänge herzustellen, aber kontinuierlich auch die Berührungspunkte zu suchen: Wie war das eigentlich jenseits der Mauer aus beiden Blickwinkeln, welche Rolle hat diese Musik eigentlich gespielt? Und wie kamen die Gemeinsamkeiten daher, nicht nur die Unterschiede."

Der Jazz, der Blues, aber auch Rock, Pop oder Tango sollen aufgewertet werden, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Universitäten der Region. Dass das International Jazz Archive seinen Sitz in Eisenach hat, macht Sinn. Schließlich ist diese Stadt der Geburtsort eines der berühmtesten Musiker, auf sich auch Jazzer immer wieder berufen: Johann Sebastian Bach.

"Wir haben uns überlegt, wir wollen in der Geburtsplatz Johann Sebastian Bachs, wo man an vielen Plätzen Musik spürt, hört und schaut, wollen wir versuchen, ein Archiv zu etablieren, auch in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule in Weimar und der Uni Jena. Wir wollen dieses Archiv behutsam, gelassen zu etwas machen, was weltweit noch mehr Bedeutung bekommt, als es ohnehin schon hat."