Javier Martinez Pedro

Wimmelbilder von der Flucht

Das Leporello "Migrar" von Javier Martinez Pedro
Das Leporello "Migrar" von Javier Martinez Pedro © Ellen Häring
Von Ellen Häring · 16.09.2015
Ein kleiner Junge flieht aus Mexiko in die USA: Davon erzählt Javier Martinez Pedro in seinem Leporello "Migrar" - und bringt damit die jungen Besucher auf dem Literaturfestival in Berlin zum Staunen.
Ein kleiner Mann mit Schnauzbart sitzt auf dem Podium und begrüßt rund 100 Kinder, die ihn beim Internationalen Literaturfestival Berlin kennenlernen wollen.

Javier Martinez Pedro heißt er, und er hat ein Buch gezeichnet, das von Migration erzählt. Nicht in Europa, sondern in Mexiko. Die gefährliche Reise wird aus der Sicht eines kleinen Jungen erzählt, es geht illegal von Mexiko in die USA.

"Wir sind im Bus zu den Eisenbahnschienen gefahren und haben dort gewartet. Als die Lokomotive auf uns zugerollt kam, hatten wir Angst. Sie hat Lärm gemacht wie ein wildes Tier, der Zug hielt gar nicht an, wir mussten rennen und aufspringen, ich wäre fast zurückgeblieben, wenn meine Schwester mich nicht im letzten Moment hochgezogen hätte."

Der einfache, kurze Text ist illustriert mit großen Wimmelbildern in Schwarz-Weiß. In Form eines gebundenen Leporellos liegt das Werk auf dem Tisch, das erste Bild, das in liebevollen Details das Leben in dem mexikanischen Dorf zeigt, wird mit einem Beamer an die Wand geworfen.
"Ich war einer von den vielen ohne Papiere"
Die Kinder suchen, sie hören aufmerksam zu und erschließen sich so die ganze Geschichte.
"Also ich habe gesehen oder gehört, dass der Vater gegangen ist und dass die Frauen und die Kinder einfach dagelassen wurden. Dass die Mutter sich auf sie draufgelegt hat, damit sie sich verstecken konnten vor den Soldaten."

Javier Martínez Pedro lässt sich die Antworten der Kinder übersetzen, nickt ihnen aufmunternd zu und strahlt Ruhe aus. So als hätte er alle Zeit der Welt. Der Illustrator ist vor 15 Jahren selbst in die USA gegangen – aus wirtschaftlicher Not. Er konnte mit seinen Zeichnungen, die er traditionell auf Baumrinde malt und als Kunsthandwerk verkauft, seine Familie nicht mehr ernähren. Auch die Wassermelonen und die Papayas, die er anbaute, brachten nicht genug ein.

"Ich habe das alles erlebt, ich war einer von den vielen ohne Papiere, ich bin über die Grenze gegangen und habe erfahren, wie schlecht man behandelt wird, man wird dort per se schief angeguckt."

Javier Martínez Pedro fühlte sich in den USA gedemütigt, er ging freiwillig zurück in sein Dorf und machte das, was er am besten kann.

"Ich habe schon als Kind angefangen zu zeichnen, weil auch meine Eltern gezeichnet haben. Als ich das gesehen habe, habe ich mich auch an den Tisch gesetzt, mir eine Baumrinde genommen, einfach drauflos gezeichnet. So habe ich angefangen."
Der mexikanische Künstler Javier Martinez Pedro
Der mexikanische Künstler Javier Martinez Pedro © Ellen Häring
"Aus meinem Dorf sind viele in die USA gegangen"
Mit dem Buch verarbeitet er auch sein eigenes Trauma, denn auf dem Weg in die USA verbrachte er Tage und Nächte in der Wüste, er wurde erwischt und ins Gefängnis gesteckt. So wie viele aus seinem Dorf, auch heute noch.
"Aus meinem Dorf sind viele in die USA gegangen, manche haben inzwischen Papiere, andere nicht. Bei uns pflanzt man Mais, Wassermelonen und Papaya an, aber das Klima hat sich verändert. Es will einfach nicht mehr regnen. Die Bauern können nicht mehr überleben, denn es wächst nichts mehr."

Auch wenn das Leporello "Migrar" beim Internationalen Literaturfestival Berlin seine Deutschlandpremiere in der Kategorie Kinder- und Jugendliteratur feiert: Javier Martínez Pedro hat es auch für Erwachsene gezeichnet und hofft, dass sie Gefallen daran finden. Dafür spricht, dass das Leporello nicht nur zeichnerisch, sondern auch buchbinderisch ein Kunstwerk ist – in edlem Karton und schwarzem Leinen.

Heute in Europa, in Zeiten, in denen Kinder jeden Tag die Bilder von hilfesuchenden Flüchtlingen sehen, könnte die Vorstellung eines Buches über Migration zu einem bedrückenden Ereignis werden. So ist es aber nicht. Die Kinder kommen schnell zu den Fragen, die sie sonst noch wichtig finden.

"Woher kannst du so gut malen? Wie heißen deine Frau und deine Kinder? Was ist dein Lieblingsessen? Hast du ein Lieblingstier oder hast du ein Tier? Wie viel Jahre alt bist du?"

"Cincuenta anos. Ich bin fünfzig."