Jarvis Cocker: "Good Pop, Bad Pop"

Reflektierte Naivität

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Jarvis Cocker mit einer großen Brille
Jarvis Cocker bei einer Vorstellung von "Good Pop, Bad Pop" in Mexiko. Er lässt sich seinen Glauben an den guten Pop nicht nehmen. © IMAGO / NurPhoto / IMAGO / Gerardo Vieyra
Von Klaus Walter · 20.10.2022
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Seine Karriere hatte er schon mit 15 durchgeplant: Jarvis Cocker hat es mit seiner Band Pulp zum Star geschafft. In seinem Buch blickt er zurück auf ein bewegtes Leben, das sich in zwei Bereiche teilen lässt: guter Pop, schlechter Pop.
Sie will mit normalen Leuten schlafen, also Sex haben mit gewöhnlichen Typen, oder sagen wir gleich: mit Prolls. Das verkündet die blasierte Upper-Class-Protagonistin in „Common People“.

Sex über Klassengrenzen hinweg

„Common People“ ist bis heute der größte Hit von Pulp, der Band von Jarvis Cocker. Und „Common People“ ist bis heute der größte Hit, der so präzise und boshaft das Thema Sex in der britischen Klassengesellschaft in den Blick nimmt.
Junge Frau aus besseren Kreisen gönnt sich also Sexurlaub mit gewöhnlichen Proleten – Ferien in anderer Leute Armut, ein Fall von Klassentourismus.
Der Song erreicht 1995 Platz zwei der britischen Charts, ein Evergreen des Britpop. Die Band Pulp existiert zu diesem Zeitpunkt bereits 17 Jahre.

Jung mit Masterplan

Pulp wird offiziell 1978 in Sheffield gegründet, damals noch eine Hochburg der Stahlindustrie. Jarvis Cocker ist gerade einmal fünfzehn Jahre alt. In Cockers Kopf besteht die Band aber schon länger.
“Der Pulp-Masterplan ging so: Wir werden berühmt! Dann gründen wir unser eigenes Plattenlabel: Pulp Incorporated. Und das wird unterdrückte Künstler aus dem Würgegriff der großen Plattenfirmen befreien. Das war ein schöner Traum.“
Das ist er also, der Pulp-Masterplan, niedergeschrieben vom Teenager-Jarvis in ein Schulheft. Das bedeutet: Jarvis erfindet buchstäblich die Band, lange bevor er ein Instrument besitzt, geschweige denn ein Instrument spielen kann.
In seinen Notizen entwirft er zunächst auch den Pulp-Look: Die Klamotten sollen „Abscheu ausdrücken gegen die normale Welt. Die Pulp-Philosophie: Aus dem, was andere wegwerfen, etwas Neues machen. Heute nennt man das 'Upcycling'. Damals nannte man es 'was Besseres können wir uns nicht leisten"

Cocker betreibt "Eigenarchäologie"

So steht es geschrieben im Schulheft von Cocker. Abgebildet in „Good Pop, Bad Pop“, seinem neuen Buch. Untertitel: „Die Dinge meines Lebens.“
Die Dinge seines Lebens findet der Erfinder von Pulp in einer Kammer auf dem Dachboden seiner Londoner Wohnung. Strickkrawatten, Kaugummipapier, ein Acrylhemd, Pornohefte, Einkaufstüten, Postkarten, Modellraumschiffe.
Der ganze Krimskrams ist zu sehen im Buch und Jarvis erzählt die Geschichten dazu. So entsteht ein autobiografisches Wimmelbild, oder besser: eine „Eigenarchäologie“:

"Der Inhalt meines Gehirns würde wahrscheinlich dem Inhalt dieses Dachbodens ähneln. Es ist also eine wilde Mischung: zerbrochene Gläser, Dinge, die andere Leute wegwerfen würden. Aber auch ein Album von The Velvet Underground, das mich sehr beeindruckt hat. Und ein Keyboard, auf dem ich viele Songs geschrieben habe."

The Velvet Underground, für Jarvis Cocker die Brücke zwischen den Beatles und Punk.

Gedankengeschöpfe

The Velvet Underground, auch eine Casting-Band der besonderen Art. Die Band, die Andy Warhol sich ausgedacht hat. So wie Jarvis Cocker sich später Pulp ausgedacht hat.
Das Pop-Verständnis von Cocker ist maßgeblich geprägt von Andy Warhol und seinem Buch „Popism“.
„Die Leute aus 'Popism' wohnten in Lofts & hingen in Warhols Atelier ab. Und deshalb hatte ich mir mit dem Vorschlaghammer ein Loft gebaut und wohnte in Sheffield über einer Fabrik. Alles nur wegen Velvet Underground. Das Pop-/Kunst-/Party-Leben aus 'Popism' klang nach Spaß. Mit Sicherheit spaßiger als das Leben im Thatcherism.“

Cocker glaubt an Pop

Margaret Thatcher gegen Velvet Underground. Der gute und der böse Pop. In seiner Rumpelkammer entdeckt Cocker eine blaue Handtasche aus Pappe. Die Nachbildung der Handtasche von Margaret Thatcher:

„Der Beginn des Zeitalters des Bad Pop. Ich hortete guten Pop, um bösen Pop abzuwehren"

Das ist so ein wuchtiger Jarvis Cocker-Satz, aber auch ein romantischer. Und schlichter. Politiker missbrauchen Pop für ihre Zwecke, aus populär wird populistisch.
Mit „Good Pop, Bad Pop“ konserviert Cocker ein übersichtliches Weltbild: Wir gegen die. Er klammert sich an seinen fast kindlichen Glauben an die heilenden Kräfte des Pop.

"Für mich bedeutet Pop, dass Kultur einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wird. Nehmen wir die 'Penguin Books'-Taschenbücher, man konnte sich ein literarisches Werk kaufen für wenig Geld, six Pence oder sowas. Das war eine Demokratisierung, eine Öffnung der Kultur für die Menschen. Heute passiert das Gegenteil. Der Zugang zur Kultur wird wieder erschwert."

Gute Zeiten für bösen Pop also. Aber Jarvis Cocker lässt sich seinen Glauben an den guten Pop nicht nehmen und bewahrt Haltung. Eine Haltung, die man vielleicht nennen könnte: reflektierte Naivität. Nein, das ist kein Widerspruch.

Jarvis Cocker: "Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens"
Aus dem Englischen von Harriet Fricke und Ingo Herzke
Kiepenheuer & Witsch, Köln
400 Seiten, 28 Euro

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