Jaroslav Rudiš: "Winterbergs letzte Reise"

Die Erzählobsessionen eines Todgeweihten

06:15 Minuten
Cover: "Jaroslav Rudis: Winterbergs letzte Reise" und Bahnfahrt
Wenzel Winterberg, Jaroslav Rudiš’ Titelheld, ist ein Mann von 99 Jahren, der viel erlebt hat. © Luchterhand Literaturverlag / imago / Robert Fishman
Von Rainer Moritz · 02.03.2019
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In dem Roman "Winterbergs letzte Reise" von Jaroslav Rudiš begleitet der Altenpfleger Jan Kraus den todkranken Patienten Wenzel Winterberg auf seiner letzten Zugfahrt von Berlin nach Sarajevo. Es ist eine Reise in die Vergangenheit.
Der 1972 geborene tschechische Autor Jaroslav Rudiš hat die Sprache gewechselt. In seinem neuen Roman "Winterbergs letzte Reise" schreibt er erstmals auf Deutsch, und er hat sich dafür kein kleines Sujet ausgesucht, sondern zielt auf Großes: Es geht um die Geschichte Mitteleuropas des 19. und 20. Jahrhunderts, und es geht um die Heraufbeschwörung eines Kulturkreises, der vielen oft nur noch in seinen Umrissen vertraut ist.
Wenzel Winterberg, Rudiš’ Titelheld, ist ein Mann von 99 Jahren, der viel erlebt hat. Drei Ehen liegen hinter ihm, und dass er 1957 zum letzten West-Berliner Straßenbahnfahrer wurde, ist der Stolz seines Berufslebens. Sein langes Leben scheint dem Ende entgegenzugehen, und so engagiert seine Tochter Silke den halb so alten Tschechen Jan Kraus, einen Pfleger, der Winterberg auf seiner letzten "Überfahrt" in andere Gefilde begleiten soll.
So brechen die beiden zu einer Kreuz-und-quer-Reise auf, die sie unter anderem nach Pilsen, Budweis, Linz, Budapest, Brünn und am Ende auf die Insel Usedom führt. Und natürlich nach Königgrätz. Denn was sich dort 1866 abspielte, ist für Winterberg der Angelpunkt der Geschichte schlechthin. Die Schlacht gilt ihm nicht nur als verheerende Niederlage Österreichs, sondern auch als ein Sieg Preußens, "der sich später auch zu einer Niederlage und in eine noch viel größere Feuerkatastrophe verwandelte". Und da bleibt die nie restlos zu beantwortende Frage, "wann es angefangen hat zu bröckeln", wann der Niedergang einsetzte.

Eine deutlich zu lang geratene Reise

Winterberg ist ein kranker Mann, der in der Vergangenheit lebt und seinen Kompagnon mit redseligen "historischen Anfällen" traktiert. Seine Lieblingslektüre ist Baedekers Handbuch "Oesterreich - Ungarn" aus dem Jahr 1913, und was er dort liest, ist Vergleichsmaßstab für alles, was den Reisenden begegnet.
Seinem historisch weniger beschlagenen Begleiter bringt Winterberg, der weiß, dass es "zu viele Geschichten" sind, die er zu erzählen hat, in kaum variierten Schilderungen seine Leib-und-Magen-Themen nahe: das von Rudolf Bitzan entworfene Krematorium ("Feuerhalle" in Winterbergs Duktus) in Reichenberg zum Beispiel, Carl von Ghegas Bau der Semmeringbahn, Amand von Schweiger-Lerchenfelds Standardwerk "Die Überschienung der Alpen" oder das Zitat eines englischen Navigators, der Winterbergs Herzenslandschaft als "the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins" bezeichnete.

Quälende Erinnerung an die Geliebte

Rudiš versucht seinen Roman durch Wiederholungen zu strukturieren. Winterbergs Erzählobsession bringt es mit sich, dass nicht nur sein Sterbebegleiter, sondern auch der Leser allmählich zu ermatten droht. So informationsreich, klug und erhellend dieses Buch an vielen Stellen ist, so offenkundig seine Überlänge. Romanfiguren, die mehr Bier trinken oder Schnitzel essen als Winterberg und Kraus, wird man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht finden.
Und so erstickt unter Rudiš’ permanenten Erzählreprisen schließlich auch das, was er an Existenziellem aus dem Leben seiner Reisenden zu erzählen weiß: Winterbergs Suche nach seiner "Frau im Mond", nach der vermeintlich in Sarajevo ermordeten Lenka, und Kraus’ quälende Erinnerung an die geliebte Italienerin Carla, die er einst in den Tod begleitete. Davon bleibt am Ende wenig, weil Jaroslav Rudiš seine Helden auf eine deutlich zu lang geratene Reise geschickt hat.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
Luchterhand Literaturverlag, München 2019
543 Seiten, 24 Euro

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