"Japan ist eine Kultur der Schande, der Scham"

Karl Pilny im Gespräch mit Joachim Scholl · 08.12.2011
Im Zweiten Weltkrieg haben japanische Wissenschaftler an Millionen Menschen medizinische Versuche durchgeführt. Der Jurist und Japan-Kenner Karl Pilny hat einen Thriller über Japans Umgang mit dieser Geschichte geschrieben. Das Gefühl des "Gesichtverlierens" von damals wiederhole sich jetzt in Zusammenhang mit der Fukushima-Katastrophe.
Joachim Scholl: Japan im Jahr eins nach Fukushima. Ultranationalistische Kräfte, unterstützt vom organisierten Verbrechen der Yakuza, rüsten sich zu einem Kriegskomplott, das Japans alte Größe wiederherstellen soll. Dazwischen funkt ein britischer Anwalt, der für einen Prozess gegen einen japanischen Pharmakonzern recherchiert, der verstrickt ist in schlimmste Kriegsverbrechen. Das ist, groß gefasst, der Plot, die Handlung von "Japan Inc.", dem ersten Roman des Wirtschaftsanwalts Karl Pilny. Er ist jetzt bei uns im Studio, willkommen im "Radiofeuilleton"!

Karl Pilny: Guten Tag, hallo!

Scholl: "Japan Inc.", Japan Incorporated, das klingt wie ein Firmenkonglomerat. Herr Pilny, was ist das für ein Unternehmen?

Pilny: Ja, das geht sogar noch weiter. Das Unternehmen ist eigentlich Japan insgesamt, die sogenannte Japan AG war ja in den 80er-Jahren ein Schlagwort, als Japan sich anschickte, die westliche Welt zu erobern. Das Rockefeller Center fiel an Mitsubishi, die Columbia-Filmstudios fielen an Sony. Das war also der Hintergrund für die Bezeichnung, dass die ganzen japanischen Unternehmen irgendwie zusammenarbeiten und dass das ganze Land wie eine geschlossene Aktiengesellschaft vorgeht. Es gibt ja auch den Begriff Deutschland AG. Und diesen Begriff habe ich bewusst wieder aufgenommen, weil es letztendlich nach wie vor um die gleichen Akteure geht, die gleichen Firmen, und da eben Politik, Wirtschaft, aber auch andere Kreise sehr aktiv zu Gange sind.

Scholl: Sie sind ein angesehener internationaler Jurist, auch Autor von mehreren Büchern über Fernost. Jetzt aber ein Roman, also, ein weitgespannter Action-Thriller. Wie kam es dazu?

Pilny: Ja, weil ich einfach mit dem Thema, was ich seit vielen Jahren bearbeite, breitere Kreise erreichen wollte. Meine Sachbücher wurden zwar sehr gut aufgenommen, aber mit so einem Thriller, mit dem man eben auch in unterhaltsamer Form doch auch sehr viel Wissen und sehr viele Themen verpacken kann, ist, glaube ich, ein zeitgemäßeres Vehikel, um über diese Dinge zu schreiben.

Scholl: Unterhaltsam ist Ihr Buch auf jeden Fall, aber es ist keine leichte Kost, Herr Pilny. Denn dieses Buch hat eine erschütternde, furchtbare historische Grundlage: die Kriegsverbrechen, die japanische Militärs in China in den 1930er-Jahren und dann während des Krieges begangen haben, mit Millionen Opfern. Der Film "John Rabe" brachte wenigstens dem deutschen Publikum die Massaker in Erinnerung, die 1937 in Nanking passierten, 300.000 auf zum Teil bestialische Weise hingemetzelte Zivilisten, lebendig verbrannt, gepfählt, zu Tode gemartert, 80.000 Frauen vergewaltigt und versklavt. Wenig erwähnt sind allerdings die medizinischen Menschenversuche, die es ebenfalls gab zwischen 1936, 1937 und 1945. Ihr Buch, Karl Pilny, in Ihrem Buch erzählen Sie ausführlich davon. Was waren das für Versuche? Man weiß wirklich wenig darüber.

Pilny: Ja, diese ganzen Vorgänge konzentrieren sich auf die berüchtigte Sondereinheit 731. Die wurde Anfang der 30er-Jahre ins Leben gerufen und hat sich eben verschiedene medizinische Fragestellungen vorgenommen und haben dann eben im besetzten China Hunderte von Lagern errichtet. Es war so, dass zu Spitzenzeiten, Anfang der 40er-Jahre, bis zu 12.000 Wissenschaftler in diesen Lagern gearbeitet haben und da wurden eben wirklich Millionen von Menschen bei lebendigem Leibe vivisektiert, zum Teil vor laufenden Kameras. Es gibt also nach wie vor auch sehr viele Bilddokumente. Und das wirklich Erschreckende daran ist, dass eben doch weite Kreise der Forschung, der Medizin und auch der Unternehmen daran beteiligt waren und, wie ich im Buch dann auch schreibe, mehr oder minder alle straflos davongekommen sind.

Scholl: Es waren Experimente, die einen Josef Mengele ja fast wie einen Schulbuben wirken lassen. Und es gab nie ein offizielles Bekenntnis Japans zu diesen Untaten, geschweige denn eine Entschuldigung oder Entschädigung?

Pilny: So ist es, so ist es. Wie bei vielen anderen dieser Kriegsgräuel wurde vertuscht und unterdrückt, so lange es eben ging. Und wenn das nicht mehr ging, dann wird eben sehr kleinteilig, Schritt für Schritt ein bisschen was eingeräumt. Aber das sind ganz, ganz große Tabuzonen in der japanischen Gesellschaft, die aber durchaus heute auch noch relevant sind.

Scholl: Sie sagten auch, die Täter sind in der Regel straflos ausgegangen. Perfiderweise haben sich diese Verbrechen ja dergestalt fortgesetzt, dass diese Mörder nach 1945 in amerikanischen Forschungslabors aufgetaucht sind. Ist das auch verbürgt, dieser Zusammenhang?

Pilny: Ja, das ist verbürgt. Das ist auch ein ganz dunkles Kapitel, dass die Amerikaner sich sozusagen diese doch sehr interessanten Ergebnisse bei biologischer Kriegsführung und so weiter sichern wollten und dass sie dadurch den ganzen Spitzenkadern dieser Sondereinheit 731 mehr oder minder Straffreiheit zugesichert haben und darüber hinausgehend die zum Teil dann auch in ihre Dienste genommen haben. Da muss man natürlich auch sofort an Wernher von Braun und die ganzen V2-Techniker in Deutschland denken. Also, da gibt es schon sehr viel parallele Verhaltensweisen zwischen den USA und Deutschland und Japan.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Karl Pilny, er hat den Roman, den Thriller "Japan Inc." geschrieben. Nun sind Sie ein hoch angesehener Anwalt, auch in Japan. Sie haben lange dort gelebt, gehörten gewissermaßen als Dozent, als Anwalt zu den Spitzen der Gesellschaft, Sie haben also ein, ja, exklusives Leben auch geführt. Und jetzt aber so ein Roman! Man spürt bei der Lektüre fast so etwas wie einen tiefen Groll über diesen Umgang Japans mit seiner Geschichte. Wie kam es dazu, Herr Pilny?

Pilny: Ja, das ist eine sehr komplexe Frage. Also, Sie haben völlig recht, ich hatte in Japan, als ich dort lebte und arbeitete, eine wunderbare Zeit. Ich hatte ein schönes japanisches Haus in Kyoto, viele dieser Dinge, die ich im Buch beschreibe, habe ich auch selbst erleben dürfen. Also, ich kenne die Innenseite der Japan AG durchaus aus eigener Anschauung.

Es gibt natürlich viele wunderbare Elemente der japanischen Kultur, aber ich glaube, jedem, der einigermaßen sensibel ist und einen gewissen humanitären Anspruch hat, würde das sehr schnell ganz, ganz übel aufstoßen, wie dort mit der Vergangenheit umgegangen wird. Natürlich ist da in Europa oder auch bei uns in Deutschland auch nicht alles im Reinen, aber da liegen trotzdem noch Welten dazwischen. Und das ist wirklich sehr schwer zu verkraften, wenn man sieht - weil, das ist ja letztendlich eine der Kernthesen des Buches -, dass noch sehr viel von diesem Gedankengut nahtlos weiter fortgeführt wird und eben über eine große Akzeptanz verfügt. Und das ist schon sehr schwer, sehr schwer zu ertragen.

Scholl: Die Oberfläche ist alles in Japan, die Äußerlichkeiten, das sagt eine Romanfigur. Es ist ein japanischer Politiker, der das auch sagen darf. An einer anderen Stelle heißt es, durch den Super-GAU von Fukushima hat das Land vor aller Welt das Gesicht verloren. Ist dieses Gesichtverlieren womöglich auch der tiefere Grund dafür, dass man sich mit den Verbrechen auch, mit der Vergangenheit so wenig auseinandersetzt, weil es einfach unzumutbar ist zuzugestehen, an solchen Untaten beteiligt zu sein?

Pilny: Da haben Sie völlig recht, Sie haben auf einen fundamentalen Unterschied zwischen der europäischen und der japanischen Kultur hingewiesen. In Europa haben wir eine Kultur der Schuld. Es geht um individuelle und kollektive Schuld, um Bereuen, Vergessenmachen und so weiter. Japan ist eine Kultur der Schande, der Scham. Das heißt, es geht in erster Linie darum, nicht das Gesicht zu verlieren, und genau aus diesen Gründen, weil auch das Konzept einer Schuld im europäischen Sinne in der Form nicht existiert. Das ist eben dann das Entscheidende, dass Japan dadurch das Gesicht verloren hat.

Scholl: Ist dieses Gesichtverlieren jetzt auch im Fall Fukushima vielleicht womöglich noch ein größerer Schock als die Katastrophe selbst?

Pilny: Ja, auf jeden Fall, auf jeden Fall. Und das ist ja auch der Auslöser in meinem Buch, dass überhaupt dieses rechtsradikale Netzwerk aktiv wird, weil sie - nicht ganz zu Unrecht, wie ich meine - sehen, dass Japan durch die sehr, sehr stümperhafte Handhabung der Krise in Fukushima, die ja zum größten Teil durch menschliches Versagen verursacht und fortgesetzt wurde, dass dadurch Japan massiv Gesicht verloren hat.

Scholl: Sie bereiten auf diesen Emotionen ja dann im Roman also die ganz große Verschwörung, die bis zu einem Krieg gegen China reicht. Wir wollen jetzt an dieser Stelle nicht zu viel verraten. Aber wie stark sind solcherlei Kräfte in Japan wirklich, gibt es sie in dieser Form, was ist da Ihr Eindruck?

Pilny: Die gibt es nach wie vor, ich habe eine Person ja zitiert, diesen berühmtberüchtigten Shintaro Ishihara, der schon in den 80er-Jahren unangenehm aufgefallen ist, der ist nach wie vor Bürgermeister von Groß-Tokio. Es gibt also sehr, sehr viele nationalistische Politiker, natürlich gerade bei der ehemals regierenden LDP. Und diese Kräfte sind also sowohl zahlenmäßig als auch vom Einfluss her durchaus stark.

Scholl: Ihr Roman ist, also in der Anklage, eigentlich zu hart für diese Nation, für die japanische Nation. Fürchten Sie nicht, dass Sie bei Ihrer nächsten Japanreise am Flughafen wieder zurückgeschickt werden?

Pilny: Ja, das könnte durchaus sein, weil Japaner sind bekanntermaßen sehr empfindlich, was das betrifft, nationale Ehre und so weiter. Deswegen habe ich schon damit gerechnet, dass da möglicherweise ein paar negative Konsequenzen kommen. Aber was gesagt werden muss, muss gesagt werden, nichts anderes wollte ich tun.

Scholl: Ihr Roman ist ja auch im Wortsinn vom Thriller-Genre her ein Mordsding, also ein Action-Thriller, da pfeifen die Kugeln und harte Männer schlitzen einander die Kehle auf. Ich musste zwischendurch immer wieder an so Filmreihen wie "Die Hard" oder "Black Rain" denken. Das Thriller-Genre ist ja erstaunlicherweise immer noch fest in angelsächsisch-amerikanischer Hand. Wenn man Ihr Buch liest, hat man das Gefühl, da will es mal einer mit den Herren Foresight und Co. aufnehmen. Ist das so?

Pilny: Da haben Sie absolut recht! Das ist seit vielen Jahren mein Traum, einen angelsächsischen Thriller zu schreiben. Und dann muss ich immer schmunzeln, weil in der deutschen Verlagswelt gibt es oftmals nur das Genre eines Krimis und ich wurde oft darauf angesprochen, ja, wie geht es denn Ihrem Krimi, worauf ich immer gesagt habe, das ist kein Krimi, sondern das ist eben ein Thriller im Stile eines Robert Harris, wo es um weltpolitische Dinge geht und auch actionreiche Zusammenhänge. Mein Motto ist ganz angelsächsisch: educate and entertain. Ich möchte also sehr viel Wissen vermitteln, jeder, der das Buch liest, wird unendlich viel lernen über China, Japan, Korea, aber er wird sich hoffentlich keine einzige Seite langweilen.

Scholl: Ich vermute allerdings, dass eine japanische Übersetzung schwer durchzusetzen sein wird.

Pilny: Das befürchte ich auch!

Scholl: Schönen Dank, Karl Pilny, auch noch mal mit dem Hinweis, dass der Name Robert Harris gefallen ist: Dieser Herr, dieser weltberühmte Thriller-Autor wird demnächst, in der nächsten Woche bei uns zu Gast sein und über seinen Finanz-Thriller "Angst" hier erzählen. Aber jetzt erst mal "Japan Inc.", so heißt der Roman von Karl Pilny, der jetzt im Osburg-Verlag erschienen ist mit opulenten 542 Seiten zum Preis von 22,90 Euro. Alles Gute für Sie, Herr Pilny, und Ihr Buch ...

Pilny: ... vielen Dank ...

Scholl: ... und ja, herzlichen Dank!

Pilny: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

(Wiederholung eines Gesprächs vom 14.11.2011)

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