Janusköpfiges Antlitz

Von Volkhard Knigge |
Suchte man in Weimar nach Weimar jenseits bekannter Pathosformeln – Stadt der Klassik, Herz der deutschen Kultur –, was fände man dann? Man fände ein schönes Städtchen mit reicher und widersprüchlicher Geschichte.
Einen Ort, an dem sich die deutsche Geschichte mit ihren beglückenden und verstörend-schmerzhaften Seiten wie in einem Brennglas zusammenballt und mit europäischer Geschichte verbindet. Cranach, Bach, Herder, Wieland, Goethe, Schiller, Wagner, Liszt, das hier gegründete Bauhaus oder die Weimarer Republik sind mit Weimar ebenso angesprochen wie die antimodernen, antidemokratischen, völkisch-antisemitischen, nationalistischen Strömungen, die nicht nur unter den Bürgern Weimars nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 Raum griffen und die Hirne vernebelten. Lange vor 1933 war in Weimar eine Saat aufgegangen, die dem Nationalsozialismus den Weg bereitete und die Errichtung eines vielfältig mit der Stadt verflochtenen Konzentrationslagers auf dem mit Goethe so eng verbundenen Ettersberg nicht als Verbrechen, sondern als gerechtfertigte Notwendigkeit erscheinen ließ. Weimar hat seitdem ein janusköpfiges Antlitz.

Manch einer wird darin eine Zumutung sehen und sich laut oder leise ärgern, dass die Geschichte Weimars im 20. Jahrhundert – und hierzu zählen auch die Zurichtungen Weimars für den SED-Staat – es nicht mehr erlaubt, Weimar zur Idylle zu verklären. Aber wird Weimar deshalb ärmer, schäbiger, weniger einer Reise wert? Im Gegenteil – der uneingeschränkte Umgang mit der ganzen Geschichte Weimars bereichert doppelt. Doppelt, weil in den baulichen Zeugnissen, den Sammlungen, den Ausstellungen, kurz den historischen Spuren und Überlieferungen vor Ort beides erfahrbar wird: Wie man Leben human gestaltet und wie man ein großes humanes Erbe menschenfeindlich verspielt. Nicht in rückwärtsgewandter Nostalgie liegt deshalb Weimars Zukunft und der Reiz einer Weimar-Reise, sondern im geschichtsbewussten Blick nach vorn.

Mit dem Rückenwind der friedlichen Revolution in der DDR und befördert von einer buchstäblich entfesselten Neugier auf die eigene Geschichte, sind in Weimar besonders in den 1990er-Jahren zahlreiche Projekte in diesem Sinn realisiert worden – und haben ihr Publikum gefunden. Ob Weimar in diesem Geist weiterhin erblüht und fruchtbar wirken kann, liegt nicht zuletzt daran, wie sich die Klassik-Stiftung positioniert. Bedeutet ihr neues Leitbild "Kosmos Weimar" einen Kosmos so selektiv, wie ihn die alten Griechen als gute Ordnung verstanden, dann hieße Kosmos den Ausschluss alles Chaotischen, Ambivalenten, Schlimmen aus der historischen Wahrnehmung.

Soll Weimar wie schon um 1900 einmal mehr von den Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft abgeschottet und als Paradiesgärtchen inszeniert werden? Zur Nagelprobe wird die Gestaltung des von der Klassik-Stiftung verantworteten neuen Bauhaus-Museums. Nähme man die mit Weimar verbundenen historischen Erfahrungen ernst, dann könnte das 1919 in Weimar gegründete Bauhaus nicht als aus ewigem Weimarer Geist hervorgegangen verstanden werden. Es erschiene vielmehr als Antwort auf im Ersten Weltkrieg blutig verspielte Kultur- und Zivilisationsgewissheit. Seine Gründung erschlösse sich als inspirierender Versuch, aus zertrümmerter Erfahrungsgewissheit Gesellschaft, Kultur und Zivilität neu zu begründen.

Weimar, in all seiner Widersprüchlichkeit ernst genommen, erhebt nicht, aber es bereichert und macht klüger. Nicht im Sinne verstaubter Buchgelehrsamkeit – so sehr man gerade in Weimar das Lesen wieder liebgewinnen kann –, sondern im Sinne aufgeklärten, menschenrechtlich verfassten Bürgersinns.


Volkhard Knigge, geboren 1954 in Bielefeld, ist Historiker und Geschichtsdidaktiker. Nach Studium in Osnabrück und Paris promovierte er 1986 mit einer psychoanalytisch und geschichtsdidaktisch orientierten Arbeit über das triviale Geschichtsbewusstsein. Seit 1994 ist er Direktor der "Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora" für die ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie für das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald bei Weimar.
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