Jan Wagner über Teheran

Jeder Taxifahrer im Iran kennt Gedichte

Der Schriftsteller Jan Wagner
Der Autor Jan Wagner erhielt mit seinem Buch "Regentonnenvariationen" 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse. Es war das erste Mal, dass die Auszeichnung für einen Gedichtband vergeben wurde. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Jan Wagner im Gespräch mit Nana Brink · 01.03.2017
Eine gute Woche war der Lyriker Jan Wagner auf Lesereise im Iran. Er hat dabei Erstaunliches erfahren: Anders als in Europa besitze Dichtung dort einen enorm hohen Stellenwert, Poesie sei Teil des Lebens.
Es sei eine "aufregende Reise" gewesen, sagt Jan Wagner, der unter anderem an zwei Teheraner Universitäten aus seinem jüngsten Buch "Selbstporträt mit Bienenschwarm" Gedichte vorgetragen hatte:
"Es waren andere Lesungen als man es hier sonst gewohnt ist, weil man ein anderes Publikum hat, natürlich eine vollkommen andere Dichtungstradition auch hat und in einem anderen Land sich bewegt, das in jeder Hinsicht ein besonderes ist, in politischer (Hinsicht), in den Beziehungen zu uns, zu Europa, zum Rest der Welt."
Welche Rolle Lyrik im Iran spielt, erfuhr Wagner im Alltäglichen: Jeder Taxifahrer könne Gedichte des persischen Klassikers Hafis rezitieren. Der Iran sei tatsächlich ein "Land der Dichter und ein Land der Dichtung":
"Ich mache hier nicht die Erfahrung, dass - egal mit wem man spricht - jeder Gedichte von Goethe, von Hölderlin, von Benn, von Brecht auswendig kann. Dort ist die Erfahrung wirklich, dass Dichtung (...) einen enorm hohen Stellenwert hat, sehr viele Leute wirklich Dichtung auswendig können."

Dichtung hat mit dem Leben der Menschen zu tun

Hafis sei auch als "Kommentator" wichtig: Seine Gedichte würden immer noch gelesen wie Kommentare zu dem, was uns heute angehe. Es sei "außergewöhnlich zu sehen", dass Dichtung im Iran unmittelbar mit dem Leben der Menschen zu tun haben könne, so Wagner.
Von den Studenten in Teheran zeigte sich Wagner nicht weniger beeindruckt: Sie seien engagiert, voller Tatendrang und "zukunftslustig":
"Bei den jungen Leuten sieht man doch eine große Offenheit. (…) Man spürt überall die Spannung natürlich zwischen Offenheit, Neugier, dem Willen, etwas zu tun, etwas zu sagen, zu bewegen - und natürlich den Strukturen, die da sind, wie sie sind. Die Gespräche bewegen sich oft über das, was gefühlt wird, was gedacht wird, was gesehen wird, was politisch geschieht."

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Mit seinem Gedichtband "Regentonnenvariationen" hat Jan Wagner einen großen Erfolg gelandet. Erstmals hat ein Lyriktitel den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten, das war 2015. Zuletzt ist sein Band "Selbstporträt mit Bienenschwarm" erschienen. Und Gedichte daraus hat Wagner auch kürzlich auf einer Reise im Iran vorgetragen, auf Einladung des Goethe-Instituts. Jan Wagner berichtet heute Abend im Literaturkolloquium Berlin über seine Erfahrungen im Iran, und jetzt schon bei uns hier in "Studio 9". Guten Morgen!
Jan Wagner: Guten Morgen!
Brink: Sie waren an zwei der besten Universitäten in Iran, in Teheran, haben dort Ihre Gedichte vorgetragen, auch in einer ganz großen Buchhandlung. Wie haben Sie das erlebt?
Wagner: Als außergewöhnliche Reise. Man kommt ja nicht jeden Tag in den Iran, und die Einladung war was ganz Besonderes. Und Sie sagen es, ich war in zwei Universitäten, in einer Buchhandlung und auch bei einer wunderbaren Zeitschrift zu Gast. Das waren andere Lesungen, als man sie sonst gewohnt ist natürlich, weil man ein anderes Publikum hat, natürlich eine vollkommen andere Dichtungstradition auch hat und in einem Land sich bewegt, dass in jeder Hinsicht ein besonderes ist, in politischer, in der Beziehung zu uns, zu Europa, zum Rest der Welt und so weiter.
Das heißt, nicht nur die Lesungen waren besonders, sondern auch der Kontext und die Gespräche danach und davor. Das war das, was mich von Anfang an besonders neugierig gemacht hatte. Wie werden die Gespräche ablaufen, worüber redet man? Wie sind Gespräche mit Studentinnen und Studenten, mit Professoren, und natürlich auch mit anderen Dichtern und Autoren und Übersetzern? Das heißt, in all diesen Fragen war das für mich eine ganz besondere Erfahrung.
Brink: Jetzt bin ich aber neugierig, weil Sie sagen, das Publikum war so anders. Wen haben Sie denn getroffen, und was hat die Menschen bewegt, als sie mit ihnen gesprochen haben?
Wagner: Nicht zuerst die Frage, was denkst du, was sind deine Eindrücke von uns hier in diesem Land. Was siehst du, was nimmst du wahr und so weiter. Auch die Frage, was kennst du an persischer, an iranischer Literatur, und welche Dichter kennst du, welche Dichterinnen kennst du, die hier bei uns geschrieben haben und schreiben? Das heißt, wie weit ist sozusagen euch in Europa oder dir in Berlin die Tradition bekannt, und inwieweit nimmst du überhaupt wahr, was hier geschieht? Das ist ja nicht unbedingt klar, weil die Kommunikation ja sozusagen auch nicht sehr einfach ist.
Aber das waren die Fragen. Auch die Frage, was ist für dich Poesie, was kann sie erreichen, was sollte sie erreichen. Und das sind natürlich auch andere Ansichten daran, was Poesie sein sollte und sein kann. Darüber hinaus dann natürlich Gespräche über, was denkt ihr in Europa oder in Deutschland über uns, dieses Land, und wie sind die Möglichkeiten dort, was machen junge Leute dort. Wenn man mit Studentinnen und Studenten geredet hat, darum ging es.

Die Macht der Übersetzer

Brink: Und was haben Sie geantwortet?
Wagner: Was die erste Frage anging, nehme ich die Literatur wahr – ja, natürlich. Wobei ich insofern schon gehandicapt bin, als ich kein Farsi spreche. Ich kann das nicht im Original lese. Wie andere Literaturen nehme ich sozusagen nur das wahr, was übersetzt wird, und kann das Original nicht lesen, also bin auf die großen Hafis-Übersetzungen angewiesen, bin auch, was moderne Lyrik aus dem Iran angeht, darauf angewiesen, was übersetzt wurde und wird und nehme natürlich nur das wahr. Das ist ja ein Merkmal oder eine Besonderheit, dass Übersetzer eine ungeheure Macht haben insofern, als sie das Bild einer Literatur prägen. Was wir sozusagen hier bekommen, nehmen wir für das, was dort geschieht.
Und natürlich gibt es viel mehr als das im Iran. Aber meine Antwort konnte insofern Ja sein, weil ich durchaus natürlich Forugh Farrochzad gelesen habe, Ahmad Schamlou gelesen habe. Ich habe sogar einmal eine Zeitschrift herausgegeben bis vor zehn Jahren, und wir hatten einen Schwerpunktteil mit zeitgenössischer Lyrik aus dem Iran darin. Das heißt, ich hab schon mich bemüht jedenfalls, wahrzunehmen, was dort geschieht, und die Klassiker, die ja schon für Goethe wichtig waren, sind natürlich auf eine andere Art und Weise präsent, als es da schon einen Austausch gab, mit dem West-Östlichen Diwan und so weiter.
Brink: Sie haben ganz interessant erzählt, dass das ja eine ganz andere Tradition hat im Iran, also Dichtung, Lyrik im persischsprachigen Raum. War das wirklich so ein Mittelpunkt in Ihren Diskussionen?
Wagner: Ja, und schon deswegen, weil dort, wie mir versichert wurde, jeder Taxifahrer, überhaupt jeder Hafis auswendig kann. Ich habe von so vielen Leuten erfahren, dass der Iran – die Behauptung hat man ja oft, wir sind ein Land der Dichter und ein Land der Dichtung, das wird ja hier auch oft gesagt. Aber ich mache hier nicht die Erfahrung, dass, egal mit wem man spricht, jeder Gedichte von Goethe, von Hölderlin, von Benn, von Brecht auswendig kann. Dort ist die Erfahrung wirklich, dass Dichtung einen enorm hohen Stellenwert hat und sehr viele Leute wirklich Dichtung auswendig können.

Zu jedem Anblick ein Gedicht

Das geht so weit, wie mir ein Freund erzählte, der über Land fuhr mit Freunden – also ein deutscher Freund, der mit iranischen Freunden über Land fuhr –, dass die Freundin bei jeder Gelegenheit, ob ein Baum auftauchte, ein Haus auftauchte, eine Szene auf dem Feld zu sehen war, zu jedem Anblick fiel ihr sozusagen ein Gedicht ein, und sie wusste das in Verse zu fassen. Und dass auch jemand wie Hafis zum Beispiel immer noch nicht nur gelesen wird, sondern auch als Kommentator aus einer anderen Zeit wichtig ist, sozusagen weil die Gedichte heute immer noch gelesen werden wie Kommentare zu dem, was uns heute angeht.
Das ist außergewöhnlich zu sehen, dass Dichtung nicht nur einen hohen Stellenwert hat, sondern auch unmittelbar mit dem Leben der Leute und dem gesellschaftlichen Leben offenkundig zu tun haben kann. Und das ist nun etwas, was man in Europa eher selten wahrnimmt.
Brink: Sie haben ja hauptsächlich gesprochen mit Germanistikstudenten, also mit Leuten, die dann auch kundig sind in der deutschen Literatur. Das ist das eine. Aber Sie haben auch angedeutet, Sie haben über politische Dinge gesprochen. Was ist Ihnen da für eine Gesellschaft oder an jungen Leuten begegnet? Etwas, das das Klischee ein bisschen bricht, was wir so normalerweise über dieses Land haben und über die politischen Entwicklungen dort?
Wagner: Die Neugier war erst mal ganz erstaunlich. Also erstens, die Germanistikstudentinnen oder -studenten, mit denen ich gesprochen habe, sprachen erst mal vorzüglich Deutsch, das war ganz erstaunlich, und waren sehr engagiert und voller Tatendrang. Die, mit denen ich gesprochen habe, waren sehr neugierig, sehr zukunftslustig und wollten auch wissen, was man selber denkt und was auch Möglichkeiten in Deutschland für sie wären. Ich glaube, das Bild, das wir haben, ist ja auch geprägt durch die Ereignisse vor ein paar Jahren, also durch die friedlich Demonstrierenden auf den Straßen. Das ist ja ein Bild, das sich sehr eingeprägt hat und mir auch sehr eingeprägt hatte.
Und gerade bei den jungen Leuten sieht man also doch eine große Offenheit, oder habe ich erfahren, eine große Offenheit. Ich war jetzt nur eine Woche da, acht Tage da. Aber die Gespräche waren – man spürt überall die Spannungen natürlich zwischen Offenheit, Neugier, dem Willen, etwas zu tun, etwas zu sagen, zu bewegen, und natürlich den Strukturen, die da sind, wie sie sind. Und die Gespräche bewegten sich dann oft auch über das, was gefühlt wird, was gedacht wird, was gesehen wird, was politisch geschieht, und das war sehr aufregend.

Teheraner Studenten: neugierig, freundlich, offen

Brink: Apropos politisch geschieht. Wir gucken ja gerade mit Spannung auf das Land, auf den Atom-Deal, den ja eigentlich die Amerikaner mit dem Iran geschlossen haben, der ja vielleicht auf der Kippe steht, die Raketentests. Ist das so was Aktuelles sozusagen, was ja auch schon länger zurückliegt, wird das akut angesprochen oder ist das eher immer so zwischen den Zeilen?
Wagner: Oft auch zwischen den Zeilen, glaube ich. Mir war da schon bewusst, als wir im Iran waren, dass wir in einer Ausnahmesituation da sind, in einer Phase der Offenheit oder des Aufeinander-zu-Gehens und kurz bevor ein neuer Präsident in Amerika übernimmt, der die Sachen auch offensichtlich etwas anders sieht und machen möchte. Das heißt, dass wir da waren in einer Phase der Offenheit, wo vieles möglich schien oder viele Gespräche und Fragen offenbar möglich waren. Ja, da wird schon direkt darüber geredet, das ist schon so, jedenfalls wenn man im Taxi sitzt zum Beispiel. Aus dem Film "Taxi Teheran" weiß man ja, wie Gespräche im Taxi ablaufen und was da an Gesprächen möglich ist.
Aber auch in persönlichen Gesprächen zu Hause oder einfach bei der Begegnung an der Universität oder nach der Lesung. Also das war das schönste Erlebnis für mich, zu sehen, mit welcher Neugier, welcher Freundlichkeit und Offenheit alle Fragen berührt werden, was die Uni und die Zeitschriften im akademischen Bereich angeht, von sehr offenen und nachdenklichen Menschen.
Brink: Der Lyriker Jan Wagner. Über seine Reise in den Iran hat er uns berichtet. Das Gespräch haben wir aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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