Jan Brokken: "Die Vergeltung"

Ein Dorf in Zeiten des Krieges

Der niederländische Autor Jan Brokken, Foto vom 01.08.2012. In seinem Buch «Die Vergeltung - Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung» geht er mit kriminalistischer Akribie dem damaligen Geschehen nach.
Der niederländische Autor Jan Brokken hat mit "Die Vergeltung" einen Bestseller-Erfolg verfasst. © picture-alliance / dpa / Merlijn Doomernik / Kiwi Verlag
Von Katharina Borchardt · 07.05.2015
Spannend wie ein Krimi liest sich "Die Vergeltung". Die deutsche Wehrmacht hat im Jahr 1944 sieben Bewohner des niederländischen Dorfes Rhoon hingerichtet. Für seinen Roman hat Jan Brokken die dramatischen Ereignisse minutiös rekonstruiert.
Am 10. Oktober 1944 lief der 18-jährige Wehrmachtssoldat Ernst Lange nachts in ein Starkstromkabel und kam nicht mehr davon los. Das Kabel hing in dem besetzten holländischen Dorf Rhoon quer über dem Deich und war in der Dunkelheit nicht zu sehen. Die Wehrmacht deutete das losgerissene Kabel ohne nähere Untersuchung als Sabotageakt des niederländischen Widerstands. Um Vergeltung zu üben, wurden anderntags sieben vage verdächtige Dorfbewohner auf dem Deich erschossen; die Häuser ihrer Familien wurden in Brand gesteckt.
Der selbst aus Rhoon stammende Autor Jan Brokken (Jahrgang 1949) hat die beiden fatalen Tage samt ihrer Vor- und Nachgeschichte aufwändig rekonstruiert. Zusammen mit dem Dokumentalisten Bert Euser hat er etliche Archive durchforstet und 185 Zeitzeugen interviewt. In seinem Buch "Die Vergeltung" legt er diese Rechercheergebnisse nun auf so spannende Weise dar, dass sich die auf reinen Fakten basierende Geschichte wie ein Krimi liest.
Die Dorfstruktur ist kompliziert
Brokken tritt dabei selbst stellenweise als recherchierendes Ich auf, das Erzählfäden spinnt, Täterprofile entwickelt und manch einen Cliffhanger einbaut. So taucht man atemlos ein in eine mehr als komplizierte Dorfstruktur, in der Einheimische unterschiedlichster politischer und religiöser Couleur, außerdem Hunderte Flüchtlinge und Untergetauchte und gut 300 Wehrmachtssoldaten lebten. Nur in einigen szenischen Darstellungen fragt man sich kritisch, welche Quellen Brokken hier bemüht und inwieweit er nicht doch ein bisschen Fantasie spielen lässt.
Während die Wehrmacht von Sabotage ausging, festigte sich im Dorf die Meinung, dass ein Sturm das Kabel heruntergerissen habe. Diese Version hatte den Vorteil, dass den örtlichen Widerstand keine Mitverantwortung am Tod der sieben Dorfbewohner traf. Bei seinen Recherchen merkte Brokken aber schnell, dass an besagtem 10. Oktober kein Lüftchen geweht hatte, es im Dorf jedoch manch einen Mann gab, dem der Sabotageakt – davon geht Jan Brokken schließlich aus – durchaus zuzutrauen gewesen wäre. Auch wenn er den Täter nicht mit endgültiger Sicherheit benennen kann, leistet er mit seinem Buch das, was die niederländische Nachkriegsjustiz seiner Ansicht nach verpasste: den Fall Rhoon juristisch und moralisch gründlich aufzuarbeiten.
Jahrzehntelang verdrängte Geschichte
Auch die Rhooner haben jahrzehntelang ihre Geschichte verdrängt, zu der gehört, dass eine Dörflerin eine Absteige für Wehrmachtssoldaten und ihre niederländischen Geliebten betrieb und dass diese Frauen nach Kriegsende von anderen Einheimischen kahlgeschoren und durchs Dorf getrieben wurden.
In den Niederlanden wurde "Die Vergeltung" ein Bestseller. Viele Leser reagierten sehr emotional auf das Buch, das ihnen die eigene Geschichte auf exemplarische und vielschichtige Weise darstellte. Uns deutsche Leser, die wir bis heute Schuld empfinden, mag es wiederum besonders berühren, dass diese Komplexität auch für Brokkens Darstellung der deutschen Soldaten gilt: Er beschreibt sie differenziert und fair und in manchen Fällen sogar nicht ohne Sympathie.

Jan Brokken: Die Vergeltung. Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015
398 Seiten, 19,99 Euro

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