James Sallis: "Sarah Jane"

Jahre in Schneekugeln

Von Kolja Mensing |
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James Sallis ist der dunkle Philosoph unter den amerikanischen Thrillerautoren. Sein Ausnahmekrimi "Sarah Jane" erzählt von einer Polizistin mit einer zweifelhaften Vergangenheit und stellt die Frage nach der Erzählbarkeit eines Lebens.
Die Versuchung ist groß, im Nachhinein einen richtigen Kriminalroman daraus zu machen. Eine Soldatin namens Sarah Jane Pullman kehrt aus dem Irakkrieg zurück und lässt sich ziellos durch die USA treiben. Schließlich bewirbt sie sich in Farr, einer Kleinstadt "irgendwo in der Mitte des Landes", beim Sheriff Department.

Ein toter Polizist

Sarah Jane wird Polizistin - und keine schlechte, bis eines Tages der ehemalige Cop Pryor Mills auftaucht und versucht, sie mit einem acht Jahre alten Mord in Verbindung zu bringen. Kurz darauf wird Pryor Mills tot aufgefunden. Sarah Jane gerät immer mehr unter Druck. Was verschweigt sie?
Ganz so einfach ist es allerdings nichts. James Sallis, der durch seine Reihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin und seinen mit Ryan Gosling verfilmten Roman "Driver" bekannt geworden ist, hat wahrscheinlich noch nie einen "richtigen" Kriminalroman im engeren Sinne geschrieben. Er ist der große, dunkle Philosoph unter den US-amerikanischen Thrillerautoren.
Und so geht es in "Sarah Jane" dann auch weniger um eine Polizistin, die von einem Verbrechen in ihrer Vergangenheit eingeholt wird, als um die Frage, ob es so etwas wie die "Erzählung" eines Lebens überhaupt geben kann. Sarah Jane Pullmann legt auf jeden Fall keinen Wert darauf, Teil einer Geschichte zu werden.
Mit 17 flieht sie von der heruntergekommenen Hühnerfarm ihrer Eltern, gerät in St. Louis in schlechte Gesellschaft und dient als Soldatin im Irak, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Dort gerät sie in einen Hinterhalt, ein Kamerad und ein Kind sterben.

Ein toter Freund

Traumatisiert kehrt sie zurück, arbeitet als Köchin in nicht ganz so tollen Restaurants und hat eine Reihe von ziemlich kaputten Beziehungen, bis eine davon in einer Katastrophe endet. Sie bringt einen Mann um, indem sie ihm im Badezimmer den Stiel einer Haarbürste in den Hals rammt und dann noch – "nur um sicherzugehen" – seinen Kopf auf den gekachelten Boden schmettert.
Sara Jane verschweigt also nichts. Doch obwohl das alles sehr präzise beschrieben wird, wird man nie erfahren, was in diesem Badezimmer eigentlich wirklich passiert ist – genau wie bei dem katastrophalen Einsatz im Irak.
Immer wieder bricht die Erzählung ab und der Text öffnet sich für essayistische Betrachtungen, die weit über das Genre des Kriminalromans hinausweisen: "Alle Geschichten sind Geistergeschichten, über verlorene Dinge, verlorene Menschen, Erinnerungen, Heimat, Leidenschaft, Jugend, über Dinge, die darum ringen, von den Lebenden gesehen und anerkannt zu werden."

Am Rand der Gesellschaft

James Sallis stellt sich mit "Sarah Jane" in eine Tradition, die von Mark Twains "Huckleberry Finn" bis zu einem aktuellen Film wie "Nomadland" reicht: mit Protagonisten und Protagonisten, die sich den großen US-amerikanischen Erzählungen entziehen und stattdessen am Rand der Gesellschaft entlang treiben, auf Flößen, in rostigen Pick-ups, oder wie Sarah Jane Pullman nach dem tödlichen Kampf im Badezimmer mit dem billigsten Gebrauchtwagen, den sie auftreiben kann – und der sie zu einem anderen, beliebigen Punkt auf der Landkarte bringt.
Kein Neuanfang, kein Endpunkt: "Wir leben in Schneekugeln", stellt Sarah Jane Pullmann fest, kurz bevor sie den Job im Sheriff Department von Farr annimmt. "Nimm sie in die Hand, schüttle sie kräftig, die Jahre wirbeln um einen herum und beruhigen sich dann."

James Sallis: "Sarah Jane"
Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger
Liebeskind, München 2021
224 Seiten, 20 Euro

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